gegen das Ende blickte Selma sehnsuchtsvoll Elise an, und sagte: Nicht wahr, liebes Lieschen, Sie heirathen meinen Mann, wenn ich todt bin? -- Die Lage ist schlechterdings unbeschreiblich, in welcher sich Stilling und Elise bei die- sem Antrag befanden -- Elise wurde blutroth im Gesicht, und antwortete: Sprechen Sie doch so nicht, Gott wolle uns für diesen Fall bewahren! -- und Stilling gab ihr einen liebevollen Verweis über ihr unschickliches Benehmen. Als sie nun in diesem Punkt mit ihrem Manne nicht fertig werden konnte, so wandte sie sich an gute Freunde, von denen sie wußte, daß sie über Stilling viel vermochten, und bat sie flehentlich, sie möchten doch sorgen, daß nach ihrem Tode ihr Wunsch erfüllt würde.
Im Frühjahr 1790 rückte nun allmählig der wichtige Zeit- punkt von Selma's Niederkunft heran; Stillings Gebet um ihr Leben wurde dringender, sie aber blieb immer ruhig. Den 11. Mai kam sie mit einem jungen Sohn glücklich nie- der, sie befand sich wohl, und Stilling freute sich hoch und dankte Gott; dann machte er seiner lieben Kindbetterin zärt- liche Vorwürfe über ihre Ahndung, allein sie sahe ihn bedenl- lich an, und sagte sehr nachdrücklich: Lieber Mann! wir sind noch nicht fertig! Fünf Tage war sie recht wohl, sie tränkte ihr Kind, und war heiter; aber am sechsten zeigte sich ein Friesel, sie wurde sehr krank, und nun ging Stil- ling das Wasser an die Seele. Freundin Elise kam, um ihr aufzuwarten, wobei sie dann auch Hannchen treulich unterstützte; auch Mutter Coing kam täglich, und löste zu Zeiten ihre Tochter ab.
Noch immer hatte Stilling Hoffnung zu ihrer Genesung, als er aber an einem Nachmittag allein an ihrem Bette saß, so bemerkte er, daß sie unordentlich zu reden anfing, und am Betttuch zurechtlegte und pflückte. Jetzt lief er unter Gottes Himmel hinaus durch das Renthofer Thor, und dann durch das Birkenwäldchen, um den Schloßberg herum; er rief aus seinem Innersten empor, daß es durch aller Himmel Himmel hätte dringen mögen, nicht um Selma's Leben, denn er ver- langte kein Wunder, sondern um Kraft für seine müde Seele, um diesen harten Schlag ertragen zu können.
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gegen das Ende blickte Selma ſehnſuchtsvoll Eliſe an, und ſagte: Nicht wahr, liebes Lieschen, Sie heirathen meinen Mann, wenn ich todt bin? — Die Lage iſt ſchlechterdings unbeſchreiblich, in welcher ſich Stilling und Eliſe bei die- ſem Antrag befanden — Eliſe wurde blutroth im Geſicht, und antwortete: Sprechen Sie doch ſo nicht, Gott wolle uns fuͤr dieſen Fall bewahren! — und Stilling gab ihr einen liebevollen Verweis uͤber ihr unſchickliches Benehmen. Als ſie nun in dieſem Punkt mit ihrem Manne nicht fertig werden konnte, ſo wandte ſie ſich an gute Freunde, von denen ſie wußte, daß ſie uͤber Stilling viel vermochten, und bat ſie flehentlich, ſie moͤchten doch ſorgen, daß nach ihrem Tode ihr Wunſch erfuͤllt wuͤrde.
Im Fruͤhjahr 1790 ruͤckte nun allmaͤhlig der wichtige Zeit- punkt von Selma’s Niederkunft heran; Stillings Gebet um ihr Leben wurde dringender, ſie aber blieb immer ruhig. Den 11. Mai kam ſie mit einem jungen Sohn gluͤcklich nie- der, ſie befand ſich wohl, und Stilling freute ſich hoch und dankte Gott; dann machte er ſeiner lieben Kindbetterin zaͤrt- liche Vorwuͤrfe uͤber ihre Ahndung, allein ſie ſahe ihn bedenl- lich an, und ſagte ſehr nachdruͤcklich: Lieber Mann! wir ſind noch nicht fertig! Fuͤnf Tage war ſie recht wohl, ſie traͤnkte ihr Kind, und war heiter; aber am ſechsten zeigte ſich ein Frieſel, ſie wurde ſehr krank, und nun ging Stil- ling das Waſſer an die Seele. Freundin Eliſe kam, um ihr aufzuwarten, wobei ſie dann auch Hannchen treulich unterſtuͤtzte; auch Mutter Coing kam taͤglich, und loͤste zu Zeiten ihre Tochter ab.
Noch immer hatte Stilling Hoffnung zu ihrer Geneſung, als er aber an einem Nachmittag allein an ihrem Bette ſaß, ſo bemerkte er, daß ſie unordentlich zu reden anfing, und am Betttuch zurechtlegte und pfluͤckte. Jetzt lief er unter Gottes Himmel hinaus durch das Renthofer Thor, und dann durch das Birkenwaͤldchen, um den Schloßberg herum; er rief aus ſeinem Innerſten empor, daß es durch aller Himmel Himmel haͤtte dringen moͤgen, nicht um Selma’s Leben, denn er ver- langte kein Wunder, ſondern um Kraft fuͤr ſeine muͤde Seele, um dieſen harten Schlag ertragen zu koͤnnen.
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gegen das Ende blickte Selma ſehnſuchtsvoll Eliſe an, und
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ſem Antrag befanden — Eliſe wurde blutroth im Geſicht,
und antwortete: Sprechen Sie doch ſo nicht, Gott wolle uns
fuͤr dieſen Fall bewahren! — und Stilling gab ihr einen
liebevollen Verweis uͤber ihr unſchickliches Benehmen. Als ſie
nun in dieſem Punkt mit ihrem Manne nicht fertig werden
konnte, ſo wandte ſie ſich an gute Freunde, von denen ſie
wußte, daß ſie uͤber Stilling viel vermochten, und bat ſie
flehentlich, ſie moͤchten doch ſorgen, daß nach ihrem Tode ihr
Wunſch erfuͤllt wuͤrde.
Im Fruͤhjahr 1790 ruͤckte nun allmaͤhlig der wichtige Zeit-
punkt von Selma’s Niederkunft heran; Stillings Gebet
um ihr Leben wurde dringender, ſie aber blieb immer ruhig.
Den 11. Mai kam ſie mit einem jungen Sohn gluͤcklich nie-
der, ſie befand ſich wohl, und Stilling freute ſich hoch und
dankte Gott; dann machte er ſeiner lieben Kindbetterin zaͤrt-
liche Vorwuͤrfe uͤber ihre Ahndung, allein ſie ſahe ihn bedenl-
lich an, und ſagte ſehr nachdruͤcklich: Lieber Mann! wir
ſind noch nicht fertig! Fuͤnf Tage war ſie recht wohl,
ſie traͤnkte ihr Kind, und war heiter; aber am ſechsten zeigte
ſich ein Frieſel, ſie wurde ſehr krank, und nun ging Stil-
ling das Waſſer an die Seele. Freundin Eliſe kam, um
ihr aufzuwarten, wobei ſie dann auch Hannchen treulich
unterſtuͤtzte; auch Mutter Coing kam taͤglich, und loͤste zu
Zeiten ihre Tochter ab.
Noch immer hatte Stilling Hoffnung zu ihrer Geneſung,
als er aber an einem Nachmittag allein an ihrem Bette ſaß,
ſo bemerkte er, daß ſie unordentlich zu reden anfing, und am
Betttuch zurechtlegte und pfluͤckte. Jetzt lief er unter Gottes
Himmel hinaus durch das Renthofer Thor, und dann durch
das Birkenwaͤldchen, um den Schloßberg herum; er rief aus
ſeinem Innerſten empor, daß es durch aller Himmel Himmel
haͤtte dringen moͤgen, nicht um Selma’s Leben, denn er ver-
langte kein Wunder, ſondern um Kraft fuͤr ſeine muͤde Seele,
um dieſen harten Schlag ertragen zu koͤnnen.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/463>, abgerufen am 22.11.2024.
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