Wort. Selma war also in ihrem neunjährigen Ehestand ein unschätzbares Werkzeug der Beglückung für Stilling gewesen.
Wenn sie sich erklärte, daß sie künftig nicht mehr in Stil- lings Lebensgang passen würde, und wenn das auch ganz richtig war, so muß ich doch alle meine Leser bitten, deßwe- gen nichts Arges zu denken oder zu ahnen. Selma hatte einen ausnehmenden edlen Charakter, sie war ein herrliches Weib: aber es gibt Lagen und Verhältnisse, zu welchen auch der vortrefflichste Mensch nicht paßt.
Stillings Führung war immer planmäßig, oder viel- mehr: der Plan, nach welchem er geführt wurde, war immer so offenbar, daß ihn jeder Scharfsichtige bemerkte -- auch Raschmann durchschaute ihn, oft staunte er Stilling an und sagte: die Vorsehung muß etwas Sonderbares mit Ihnen vorhaben; denn alle Ihre großen und kleinen Schicksale zielen auf einen großen Zweck, der noch in der dunkeln Zukunft verborgen liegt. Dieß fühlte auch Stilling sehr wohl, und es beugte ihn in den Staub, aber es gab ihm auch Muth und Freudigkeit zum Fortringen auf der Kampfbahn, und wie sehr eine solche Führung das wahre Christenthum, und den Glauben an den Weltversöhner befördere, das läßt sich leicht erachten.
Selma lag da entseelt -- Hannchen, ein Mädchen von sechzehn und einem halben Jahr, ergriff nun mit Muth und Entschlossenheit das Ruder der Haushaltung, und eine treue brave Magd, die Selma schon in Lautern zu sich genom- men, erzogen, und zu einer guten Köchin gebildet hatte, un- terstützte sie.
Von sechs Kindern, die Selma geboren hatte, lebten noch drei: Lisette, Karoline und dann der verwaiste Säugling, dem sie entflohen war. Lisette war vier und ein viertel, und Karoline zwei und ein halb Jahr alt. Selma selbst hatte noch nicht volle dreißig Jahre gelebt, als sie starb, und so viel geleistet -- sonderbar ists, daß sie in ihren Braut- tagen zu Stilling sagte: Sie werden mich nicht lange haben, denn ich werde nicht dreißig Jahre
Wort. Selma war alſo in ihrem neunjaͤhrigen Eheſtand ein unſchaͤtzbares Werkzeug der Begluͤckung fuͤr Stilling geweſen.
Wenn ſie ſich erklaͤrte, daß ſie kuͤnftig nicht mehr in Stil- lings Lebensgang paſſen wuͤrde, und wenn das auch ganz richtig war, ſo muß ich doch alle meine Leſer bitten, deßwe- gen nichts Arges zu denken oder zu ahnen. Selma hatte einen ausnehmenden edlen Charakter, ſie war ein herrliches Weib: aber es gibt Lagen und Verhaͤltniſſe, zu welchen auch der vortrefflichſte Menſch nicht paßt.
Stillings Fuͤhrung war immer planmaͤßig, oder viel- mehr: der Plan, nach welchem er gefuͤhrt wurde, war immer ſo offenbar, daß ihn jeder Scharfſichtige bemerkte — auch Raſchmann durchſchaute ihn, oft ſtaunte er Stilling an und ſagte: die Vorſehung muß etwas Sonderbares mit Ihnen vorhaben; denn alle Ihre großen und kleinen Schickſale zielen auf einen großen Zweck, der noch in der dunkeln Zukunft verborgen liegt. Dieß fuͤhlte auch Stilling ſehr wohl, und es beugte ihn in den Staub, aber es gab ihm auch Muth und Freudigkeit zum Fortringen auf der Kampfbahn, und wie ſehr eine ſolche Fuͤhrung das wahre Chriſtenthum, und den Glauben an den Weltverſoͤhner befoͤrdere, das laͤßt ſich leicht erachten.
Selma lag da entſeelt — Hannchen, ein Maͤdchen von ſechzehn und einem halben Jahr, ergriff nun mit Muth und Entſchloſſenheit das Ruder der Haushaltung, und eine treue brave Magd, die Selma ſchon in Lautern zu ſich genom- men, erzogen, und zu einer guten Koͤchin gebildet hatte, un- terſtuͤtzte ſie.
Von ſechs Kindern, die Selma geboren hatte, lebten noch drei: Liſette, Karoline und dann der verwaiste Saͤugling, dem ſie entflohen war. Liſette war vier und ein viertel, und Karoline zwei und ein halb Jahr alt. Selma ſelbſt hatte noch nicht volle dreißig Jahre gelebt, als ſie ſtarb, und ſo viel geleiſtet — ſonderbar iſts, daß ſie in ihren Braut- tagen zu Stilling ſagte: Sie werden mich nicht lange haben, denn ich werde nicht dreißig Jahre
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Wort. Selma war alſo in ihrem neunjaͤhrigen Eheſtand
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Wenn ſie ſich erklaͤrte, daß ſie kuͤnftig nicht mehr in Stil-
lings Lebensgang paſſen wuͤrde, und wenn das auch ganz
richtig war, ſo muß ich doch alle meine Leſer bitten, deßwe-
gen nichts Arges zu denken oder zu ahnen. Selma hatte
einen ausnehmenden edlen Charakter, ſie war ein herrliches
Weib: aber es gibt Lagen und Verhaͤltniſſe, zu welchen auch
der vortrefflichſte Menſch nicht paßt.
Stillings Fuͤhrung war immer planmaͤßig, oder viel-
mehr: der Plan, nach welchem er gefuͤhrt wurde, war immer
ſo offenbar, daß ihn jeder Scharfſichtige bemerkte — auch
Raſchmann durchſchaute ihn, oft ſtaunte er Stilling an
und ſagte: die Vorſehung muß etwas Sonderbares
mit Ihnen vorhaben; denn alle Ihre großen und
kleinen Schickſale zielen auf einen großen Zweck,
der noch in der dunkeln Zukunft verborgen liegt.
Dieß fuͤhlte auch Stilling ſehr wohl, und es beugte ihn
in den Staub, aber es gab ihm auch Muth und Freudigkeit
zum Fortringen auf der Kampfbahn, und wie ſehr eine ſolche
Fuͤhrung das wahre Chriſtenthum, und den Glauben an den
Weltverſoͤhner befoͤrdere, das laͤßt ſich leicht erachten.
Selma lag da entſeelt — Hannchen, ein Maͤdchen von
ſechzehn und einem halben Jahr, ergriff nun mit Muth und
Entſchloſſenheit das Ruder der Haushaltung, und eine treue
brave Magd, die Selma ſchon in Lautern zu ſich genom-
men, erzogen, und zu einer guten Koͤchin gebildet hatte, un-
terſtuͤtzte ſie.
Von ſechs Kindern, die Selma geboren hatte, lebten noch
drei: Liſette, Karoline und dann der verwaiste Saͤugling,
dem ſie entflohen war. Liſette war vier und ein viertel,
und Karoline zwei und ein halb Jahr alt. Selma ſelbſt
hatte noch nicht volle dreißig Jahre gelebt, als ſie ſtarb, und
ſo viel geleiſtet — ſonderbar iſts, daß ſie in ihren Braut-
tagen zu Stilling ſagte: Sie werden mich nicht
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/466>, abgerufen am 22.11.2024.
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