der Stadt zu kommen, dieser und der folgende Tag mußte noch ausgehalten werden, wo sich's dann auch zeigte, daß die Franzosen erst Mainz einzunehmen suchten; jetzt fand Stil- ling Gelegenheit zur Abreise, und da die Jüdin unheilbar blind war, so fuhr er mit Elise wieder nach Marburg. Hier wurden nun alle möglichen Mittel versucht, die gute Seele von ihrem Jammer zu befreien; allein Alles ist bis dahin vergebens gewesen, sie trägt dieß Elend nun über eilf Jahr! -- es ist zwar Etwas besser als damals, indessen doch noch immer ein sehr hartes Kreuz für sie selbst und auch für ihren Mann
Stilling wirkte in seinem Prorectorat und Lehramt treu- lich fort, und Elise trug ihren Jammer, wie es einer Christin gebührt; hiezu gesellte sich nun noch die Angst, von den Fran- zosen überfallen zu werden; der Kurfürst kam zwar Anfangs Oktobers wieder, aber seine Truppen rückten wegen des schlim- men Wetters sehr langsam nach. Hessen, und mit ihm die ganze Gegend war also unbeschützt, folglich hatte der französische General Custine freie Hand -- wäre sein Muth und sein Verstand so groß gewesen, wie sein Schnurr- und Backenbart, so hätte ein größerer Theil von Deutschland seine politische Existenz verloren: denn die allgemeine Stimmung war damals revolutionär und günstig für Frankreich.
Indessen wußte man damals doch nicht, was Custine vor- hatte, und man mußte Alles erwarten; seine Truppen hausten in der Wetterau umher, und man hörte zu Zeiten ihren Kanonendonner; Alles rüstete sich zur Flucht, nur die Chefs der Kollegien durften nicht von ihren Posten gehen, folglich auch Stilling nicht, er mußte aushalten. Diese Lage drückte seine Seele, die ohnehin von allen Seiten geängstigt war, außer- ordentlich.
An einem Sonntag Morgen, gegen das Ende des Oktobers, entstand das fürchterliche Gerücht in der Stadt, die Franzosen seyen in der Nähe, und kämen den Lahnberg herunter -- jetzt ging Stilling das Wasser an die Seele, er fiel auf seiner Studierstube auf die Knie, und flehte mit Thränen zum Herrn um Trost und Stärke; jetzt fiel sein Blick auf ein Spruchbüch- lein, welches da vor ihm unter andern Büchern stand, er fühlte
der Stadt zu kommen, dieſer und der folgende Tag mußte noch ausgehalten werden, wo ſich’s dann auch zeigte, daß die Franzoſen erſt Mainz einzunehmen ſuchten; jetzt fand Stil- ling Gelegenheit zur Abreiſe, und da die Juͤdin unheilbar blind war, ſo fuhr er mit Eliſe wieder nach Marburg. Hier wurden nun alle moͤglichen Mittel verſucht, die gute Seele von ihrem Jammer zu befreien; allein Alles iſt bis dahin vergebens geweſen, ſie traͤgt dieß Elend nun uͤber eilf Jahr! — es iſt zwar Etwas beſſer als damals, indeſſen doch noch immer ein ſehr hartes Kreuz fuͤr ſie ſelbſt und auch fuͤr ihren Mann
Stilling wirkte in ſeinem Prorectorat und Lehramt treu- lich fort, und Eliſe trug ihren Jammer, wie es einer Chriſtin gebuͤhrt; hiezu geſellte ſich nun noch die Angſt, von den Fran- zoſen uͤberfallen zu werden; der Kurfuͤrſt kam zwar Anfangs Oktobers wieder, aber ſeine Truppen ruͤckten wegen des ſchlim- men Wetters ſehr langſam nach. Heſſen, und mit ihm die ganze Gegend war alſo unbeſchuͤtzt, folglich hatte der franzoͤſiſche General Cuſtine freie Hand — waͤre ſein Muth und ſein Verſtand ſo groß geweſen, wie ſein Schnurr- und Backenbart, ſo haͤtte ein groͤßerer Theil von Deutſchland ſeine politiſche Exiſtenz verloren: denn die allgemeine Stimmung war damals revolutionaͤr und guͤnſtig fuͤr Frankreich.
Indeſſen wußte man damals doch nicht, was Cuſtine vor- hatte, und man mußte Alles erwarten; ſeine Truppen hausten in der Wetterau umher, und man hoͤrte zu Zeiten ihren Kanonendonner; Alles ruͤſtete ſich zur Flucht, nur die Chefs der Kollegien durften nicht von ihren Poſten gehen, folglich auch Stilling nicht, er mußte aushalten. Dieſe Lage druͤckte ſeine Seele, die ohnehin von allen Seiten geaͤngſtigt war, außer- ordentlich.
An einem Sonntag Morgen, gegen das Ende des Oktobers, entſtand das fuͤrchterliche Geruͤcht in der Stadt, die Franzoſen ſeyen in der Naͤhe, und kaͤmen den Lahnberg herunter — jetzt ging Stilling das Waſſer an die Seele, er fiel auf ſeiner Studierſtube auf die Knie, und flehte mit Thraͤnen zum Herrn um Troſt und Staͤrke; jetzt fiel ſein Blick auf ein Spruchbuͤch- lein, welches da vor ihm unter andern Buͤchern ſtand, er fuͤhlte
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0486"n="478"/>
der Stadt zu kommen, dieſer und der folgende Tag mußte<lb/>
noch ausgehalten werden, wo ſich’s dann auch zeigte, daß die<lb/>
Franzoſen erſt Mainz einzunehmen ſuchten; jetzt fand <hirendition="#g">Stil-<lb/>
ling</hi> Gelegenheit zur Abreiſe, und da die Juͤdin unheilbar blind<lb/>
war, ſo fuhr er mit <hirendition="#g">Eliſe</hi> wieder nach <hirendition="#g">Marburg</hi>. Hier<lb/>
wurden nun alle moͤglichen Mittel verſucht, die gute Seele von<lb/>
ihrem Jammer zu befreien; allein Alles iſt bis dahin vergebens<lb/>
geweſen, ſie traͤgt dieß Elend nun uͤber eilf Jahr! — es iſt<lb/>
zwar Etwas beſſer als damals, indeſſen doch noch immer ein<lb/>ſehr hartes Kreuz fuͤr ſie ſelbſt und auch fuͤr ihren Mann</p><lb/><p><hirendition="#g">Stilling</hi> wirkte in ſeinem Prorectorat und Lehramt treu-<lb/>
lich fort, und <hirendition="#g">Eliſe</hi> trug ihren Jammer, wie es einer Chriſtin<lb/>
gebuͤhrt; hiezu geſellte ſich nun noch die Angſt, von den Fran-<lb/>
zoſen uͤberfallen zu werden; der Kurfuͤrſt kam zwar Anfangs<lb/>
Oktobers wieder, aber ſeine Truppen ruͤckten wegen des ſchlim-<lb/>
men Wetters ſehr langſam nach. <hirendition="#g">Heſſen</hi>, und mit ihm die<lb/>
ganze Gegend war alſo unbeſchuͤtzt, folglich hatte der franzoͤſiſche<lb/>
General <hirendition="#g">Cuſtine</hi> freie Hand — waͤre ſein Muth und ſein<lb/>
Verſtand ſo groß geweſen, wie ſein Schnurr- und Backenbart,<lb/>ſo haͤtte ein groͤßerer Theil von <hirendition="#g">Deutſchland</hi>ſeine politiſche<lb/>
Exiſtenz verloren: denn die allgemeine Stimmung war damals<lb/>
revolutionaͤr und guͤnſtig fuͤr <hirendition="#g">Frankreich</hi>.</p><lb/><p>Indeſſen wußte man damals doch nicht, was <hirendition="#g">Cuſtine</hi> vor-<lb/>
hatte, und man mußte Alles erwarten; ſeine Truppen hausten<lb/>
in der <hirendition="#g">Wetterau</hi> umher, und man hoͤrte zu Zeiten ihren<lb/>
Kanonendonner; Alles ruͤſtete ſich zur Flucht, nur die Chefs<lb/>
der <hirendition="#g">Kollegien</hi> durften nicht von ihren Poſten gehen, folglich<lb/>
auch <hirendition="#g">Stilling</hi> nicht, er mußte aushalten. Dieſe Lage druͤckte<lb/>ſeine Seele, die ohnehin von allen Seiten geaͤngſtigt war, außer-<lb/>
ordentlich.</p><lb/><p>An einem Sonntag Morgen, gegen das Ende des Oktobers,<lb/>
entſtand das fuͤrchterliche Geruͤcht in der Stadt, die Franzoſen<lb/>ſeyen in der Naͤhe, und kaͤmen den Lahnberg herunter — jetzt<lb/>
ging <hirendition="#g">Stilling</hi> das Waſſer an die Seele, er fiel auf ſeiner<lb/>
Studierſtube auf die Knie, und flehte mit Thraͤnen zum Herrn<lb/>
um Troſt und Staͤrke; jetzt fiel ſein Blick auf ein Spruchbuͤch-<lb/>
lein, welches da vor ihm unter andern Buͤchern ſtand, er fuͤhlte<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[478/0486]
der Stadt zu kommen, dieſer und der folgende Tag mußte
noch ausgehalten werden, wo ſich’s dann auch zeigte, daß die
Franzoſen erſt Mainz einzunehmen ſuchten; jetzt fand Stil-
ling Gelegenheit zur Abreiſe, und da die Juͤdin unheilbar blind
war, ſo fuhr er mit Eliſe wieder nach Marburg. Hier
wurden nun alle moͤglichen Mittel verſucht, die gute Seele von
ihrem Jammer zu befreien; allein Alles iſt bis dahin vergebens
geweſen, ſie traͤgt dieß Elend nun uͤber eilf Jahr! — es iſt
zwar Etwas beſſer als damals, indeſſen doch noch immer ein
ſehr hartes Kreuz fuͤr ſie ſelbſt und auch fuͤr ihren Mann
Stilling wirkte in ſeinem Prorectorat und Lehramt treu-
lich fort, und Eliſe trug ihren Jammer, wie es einer Chriſtin
gebuͤhrt; hiezu geſellte ſich nun noch die Angſt, von den Fran-
zoſen uͤberfallen zu werden; der Kurfuͤrſt kam zwar Anfangs
Oktobers wieder, aber ſeine Truppen ruͤckten wegen des ſchlim-
men Wetters ſehr langſam nach. Heſſen, und mit ihm die
ganze Gegend war alſo unbeſchuͤtzt, folglich hatte der franzoͤſiſche
General Cuſtine freie Hand — waͤre ſein Muth und ſein
Verſtand ſo groß geweſen, wie ſein Schnurr- und Backenbart,
ſo haͤtte ein groͤßerer Theil von Deutſchland ſeine politiſche
Exiſtenz verloren: denn die allgemeine Stimmung war damals
revolutionaͤr und guͤnſtig fuͤr Frankreich.
Indeſſen wußte man damals doch nicht, was Cuſtine vor-
hatte, und man mußte Alles erwarten; ſeine Truppen hausten
in der Wetterau umher, und man hoͤrte zu Zeiten ihren
Kanonendonner; Alles ruͤſtete ſich zur Flucht, nur die Chefs
der Kollegien durften nicht von ihren Poſten gehen, folglich
auch Stilling nicht, er mußte aushalten. Dieſe Lage druͤckte
ſeine Seele, die ohnehin von allen Seiten geaͤngſtigt war, außer-
ordentlich.
An einem Sonntag Morgen, gegen das Ende des Oktobers,
entſtand das fuͤrchterliche Geruͤcht in der Stadt, die Franzoſen
ſeyen in der Naͤhe, und kaͤmen den Lahnberg herunter — jetzt
ging Stilling das Waſſer an die Seele, er fiel auf ſeiner
Studierſtube auf die Knie, und flehte mit Thraͤnen zum Herrn
um Troſt und Staͤrke; jetzt fiel ſein Blick auf ein Spruchbuͤch-
lein, welches da vor ihm unter andern Buͤchern ſtand, er fuͤhlte
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 478. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/486>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.