gerade entgegen waren: daher nahm die Anzahl seiner Zuhö- rer immer mehr und mehr ab, und der Geist der Zeit, die herrschende Denkungsart und die allgemeine Richtung der deut- schen Kameral-Politik ließen ihm keinen Schimmer von Hoff- nung übrig, daß er fernerhin durch seine staatswirthschaftli- chen Grundsätze Nutzen stiften würde.
Jetzt bitte ich, nun einmal ruhig zu überlegen, wie einem ehrlichen, gewissenhaften Mann in einer solchen Lage zu Muthe seyn müsse! -- und ob die ganze Stellung dieses Schick- sals Stillings blindes Ohngefähr und Zufall seyn könnte?
So hell und so klar jetzt das Alles war, so dunkel war der Weg zum Ziel: es ließ sich damals durchaus kein Aus- weg denken, um dazu zu gelangen: denn seine Familie war zahlreich; sein Sohn studirte; der Krieg und noch andere Umstände machten Alles sehr theuer; der Hülfsbedürftigen waren viel; seine starke Besoldung reichte kaum zu; es waren noch viele Schulden zu bezahlen; zwar hatte Elise, die red- lich und treu in Ansehung der Haushaltung in Selma's Fußstapfen trat, aller Krankheiten, schweren Ausgaben, und Hannchens Verheirathung ungeachtet, in den wenigen Jah- ren schon einige hundert Gulden abgetragen, auch wurden die Zinsen jährlich richtig bezahlt, aber in den gegenwärtigen Um- ständen war an eine merkliche Schuldentilgung nicht zu den- ken, folglich mußte Stilling um der Besoldung willen sein Lehramt behalten und mit aller Treue versehen. Man denke sich in seine Lage: zu dem Wirkungskreis, in welchem er mit dem größten Segen und mit Freudigkeit hätte geschäftig seyn können und zu dem er von Jugend auf eine unüberwindliche Neigung gehabt hatte, zu dem Beruf zu gelangen, lagen un- übersteigliche Hindernisse im Weg. Hingegen der Beruf, in welchem er ohne Segen und ohne Hoffnung arbeiten mußte, war ihm durchaus unentbehrlich. Hiezu kam dann noch der traurige Gedanke: was sein Landesfürst sagen würde, wenn er erführe, daß Stilling für die schwere Besoldung so we- nig leistete, oder vielmehr leisten könnte?
Das Jahr 1794 streute wieder viele Dornen auf Stillings Lebensweg; denn im Februar starb Elisens ältestes Töchter-
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gerade entgegen waren: daher nahm die Anzahl ſeiner Zuhoͤ- rer immer mehr und mehr ab, und der Geiſt der Zeit, die herrſchende Denkungsart und die allgemeine Richtung der deut- ſchen Kameral-Politik ließen ihm keinen Schimmer von Hoff- nung uͤbrig, daß er fernerhin durch ſeine ſtaatswirthſchaftli- chen Grundſaͤtze Nutzen ſtiften wuͤrde.
Jetzt bitte ich, nun einmal ruhig zu uͤberlegen, wie einem ehrlichen, gewiſſenhaften Mann in einer ſolchen Lage zu Muthe ſeyn muͤſſe! — und ob die ganze Stellung dieſes Schick- ſals Stillings blindes Ohngefaͤhr und Zufall ſeyn koͤnnte?
So hell und ſo klar jetzt das Alles war, ſo dunkel war der Weg zum Ziel: es ließ ſich damals durchaus kein Aus- weg denken, um dazu zu gelangen: denn ſeine Familie war zahlreich; ſein Sohn ſtudirte; der Krieg und noch andere Umſtaͤnde machten Alles ſehr theuer; der Huͤlfsbeduͤrftigen waren viel; ſeine ſtarke Beſoldung reichte kaum zu; es waren noch viele Schulden zu bezahlen; zwar hatte Eliſe, die red- lich und treu in Anſehung der Haushaltung in Selma’s Fußſtapfen trat, aller Krankheiten, ſchweren Ausgaben, und Hannchens Verheirathung ungeachtet, in den wenigen Jah- ren ſchon einige hundert Gulden abgetragen, auch wurden die Zinſen jaͤhrlich richtig bezahlt, aber in den gegenwaͤrtigen Um- ſtaͤnden war an eine merkliche Schuldentilgung nicht zu den- ken, folglich mußte Stilling um der Beſoldung willen ſein Lehramt behalten und mit aller Treue verſehen. Man denke ſich in ſeine Lage: zu dem Wirkungskreis, in welchem er mit dem groͤßten Segen und mit Freudigkeit haͤtte geſchaͤftig ſeyn koͤnnen und zu dem er von Jugend auf eine unuͤberwindliche Neigung gehabt hatte, zu dem Beruf zu gelangen, lagen un- uͤberſteigliche Hinderniſſe im Weg. Hingegen der Beruf, in welchem er ohne Segen und ohne Hoffnung arbeiten mußte, war ihm durchaus unentbehrlich. Hiezu kam dann noch der traurige Gedanke: was ſein Landesfuͤrſt ſagen wuͤrde, wenn er erfuͤhre, daß Stilling fuͤr die ſchwere Beſoldung ſo we- nig leiſtete, oder vielmehr leiſten koͤnnte?
Das Jahr 1794 ſtreute wieder viele Dornen auf Stillings Lebensweg; denn im Februar ſtarb Eliſens aͤlteſtes Toͤchter-
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gerade entgegen waren: daher nahm die Anzahl ſeiner Zuhoͤ-
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ſchen Kameral-Politik ließen ihm keinen Schimmer von Hoff-
nung uͤbrig, daß er fernerhin durch ſeine ſtaatswirthſchaftli-
chen Grundſaͤtze Nutzen ſtiften wuͤrde.
Jetzt bitte ich, nun einmal ruhig zu uͤberlegen, wie einem
ehrlichen, gewiſſenhaften Mann in einer ſolchen Lage zu
Muthe ſeyn muͤſſe! — und ob die ganze Stellung dieſes Schick-
ſals Stillings blindes Ohngefaͤhr und Zufall ſeyn koͤnnte?
So hell und ſo klar jetzt das Alles war, ſo dunkel war
der Weg zum Ziel: es ließ ſich damals durchaus kein Aus-
weg denken, um dazu zu gelangen: denn ſeine Familie war
zahlreich; ſein Sohn ſtudirte; der Krieg und noch andere
Umſtaͤnde machten Alles ſehr theuer; der Huͤlfsbeduͤrftigen
waren viel; ſeine ſtarke Beſoldung reichte kaum zu; es waren
noch viele Schulden zu bezahlen; zwar hatte Eliſe, die red-
lich und treu in Anſehung der Haushaltung in Selma’s
Fußſtapfen trat, aller Krankheiten, ſchweren Ausgaben, und
Hannchens Verheirathung ungeachtet, in den wenigen Jah-
ren ſchon einige hundert Gulden abgetragen, auch wurden die
Zinſen jaͤhrlich richtig bezahlt, aber in den gegenwaͤrtigen Um-
ſtaͤnden war an eine merkliche Schuldentilgung nicht zu den-
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Lehramt behalten und mit aller Treue verſehen. Man denke
ſich in ſeine Lage: zu dem Wirkungskreis, in welchem er mit
dem groͤßten Segen und mit Freudigkeit haͤtte geſchaͤftig ſeyn
koͤnnen und zu dem er von Jugend auf eine unuͤberwindliche
Neigung gehabt hatte, zu dem Beruf zu gelangen, lagen un-
uͤberſteigliche Hinderniſſe im Weg. Hingegen der Beruf, in
welchem er ohne Segen und ohne Hoffnung arbeiten mußte,
war ihm durchaus unentbehrlich. Hiezu kam dann noch der
traurige Gedanke: was ſein Landesfuͤrſt ſagen wuͤrde, wenn
er erfuͤhre, daß Stilling fuͤr die ſchwere Beſoldung ſo we-
nig leiſtete, oder vielmehr leiſten koͤnnte?
Das Jahr 1794 ſtreute wieder viele Dornen auf Stillings
Lebensweg; denn im Februar ſtarb Eliſens aͤlteſtes Toͤchter-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 487. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/495>, abgerufen am 22.11.2024.
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