noch kaum merkbare Ziel, damit er kein Tempo versäumen möchte.
Ungefähr um die nämliche Zeit, oder noch Etwas später, bekam er auch einen Brief vom Pfarrer König zu Burgdorf im Emmenthal im Kanton Bern, daß er kommen möchte, denn für die Sicherheit der Reisekosten sey gesorgt. Dieser Pfar- rer König war staarblind, und hatte schon vorher mit Stil- ling desfalls correspondirt; dieser hatte ihm auch versprochen zu kommen, sobald er nur wisse, daß ihm die Reisekosten erstat- tet würden. Jetzt fingen also Stilling und Elise an, sich zur zweiten Schweizerreise zu rüsten.
Während aller dieser Vorfälle nahm Vater Wilhelms Ge- sundheitszustand, der bisher so ganz fest und dauerhaft gewesen war, eine ganz andere Richtung: in Ansehung seiner Seelenkräfte war er nun so ganz Kind geworden, daß er gar keinen Verstand und Urtheilskraft mehr hatte; sein Körper aber fing an, die zum Leben nöthigen Verrichtungen zu vernachläßigen; zudem lag er sich wund, so daß nun sein Zustand höchst bedauernswür- dig war, täglich mußte der Wundarzt mit ein paar Gehülfen kommen, um ihm seinen wunden Rücken und übrige Theile zu verbinden, wobei der arme Mann so entsetzlich lamentirte, daß die ganze Nachbarschaft um seine Auflösung betete.
Stilling konnte den Jammer nicht ertragen, er ging gewöhn- lich fort, wenn die Verbindungszeit kam: aber auch zwischen der Zeit winselte er öfters erbärmlich. Endlich kam dann auch der Tag seiner Erlösung; am sechsten September, Abends um halb zehn Uhr, ging er zu den seligen Wohnungen seiner Vorfah- ren über. Stilling ließ ihn mit den Feierlichkeiten begraben, die in Marburg bei Honoratioren üblich sind.
Wilhelm Stilling ist also nun nicht mehr hienieden; sein stiller, von den Großen dieser Erde unbemerkbarer Wandel, war denn doch Saat auf eine fruchtbare Zukunft. Nicht der ist im- mer ein großer Mann, der weit und breit berühmt ist; -- auch der ist nicht immer groß, der viel thut, sondern der ists im eigentlichen Sinn, der hier säet, und dort tausendfältig erndtet. Wilhelm Stilling war ein Thränensäer -- er ging hin und weinte, und trug edlen Saamen, jetzt wird er nun auch wohl mit Freuden erndten. Seine Kinder, Heinrich und Elise, freuen
noch kaum merkbare Ziel, damit er kein Tempo verſaͤumen moͤchte.
Ungefaͤhr um die naͤmliche Zeit, oder noch Etwas ſpaͤter, bekam er auch einen Brief vom Pfarrer Koͤnig zu Burgdorf im Emmenthal im Kanton Bern, daß er kommen moͤchte, denn fuͤr die Sicherheit der Reiſekoſten ſey geſorgt. Dieſer Pfar- rer Koͤnig war ſtaarblind, und hatte ſchon vorher mit Stil- ling desfalls correſpondirt; dieſer hatte ihm auch verſprochen zu kommen, ſobald er nur wiſſe, daß ihm die Reiſekoſten erſtat- tet wuͤrden. Jetzt fingen alſo Stilling und Eliſe an, ſich zur zweiten Schweizerreiſe zu ruͤſten.
Waͤhrend aller dieſer Vorfaͤlle nahm Vater Wilhelms Ge- ſundheitszuſtand, der bisher ſo ganz feſt und dauerhaft geweſen war, eine ganz andere Richtung: in Anſehung ſeiner Seelenkraͤfte war er nun ſo ganz Kind geworden, daß er gar keinen Verſtand und Urtheilskraft mehr hatte; ſein Koͤrper aber fing an, die zum Leben noͤthigen Verrichtungen zu vernachlaͤßigen; zudem lag er ſich wund, ſo daß nun ſein Zuſtand hoͤchſt bedauernswuͤr- dig war, taͤglich mußte der Wundarzt mit ein paar Gehuͤlfen kommen, um ihm ſeinen wunden Ruͤcken und uͤbrige Theile zu verbinden, wobei der arme Mann ſo entſetzlich lamentirte, daß die ganze Nachbarſchaft um ſeine Aufloͤſung betete.
Stilling konnte den Jammer nicht ertragen, er ging gewoͤhn- lich fort, wenn die Verbindungszeit kam: aber auch zwiſchen der Zeit winſelte er oͤfters erbaͤrmlich. Endlich kam dann auch der Tag ſeiner Erloͤſung; am ſechsten September, Abends um halb zehn Uhr, ging er zu den ſeligen Wohnungen ſeiner Vorfah- ren uͤber. Stilling ließ ihn mit den Feierlichkeiten begraben, die in Marburg bei Honoratioren uͤblich ſind.
Wilhelm Stilling iſt alſo nun nicht mehr hienieden; ſein ſtiller, von den Großen dieſer Erde unbemerkbarer Wandel, war denn doch Saat auf eine fruchtbare Zukunft. Nicht der iſt im- mer ein großer Mann, der weit und breit beruͤhmt iſt; — auch der iſt nicht immer groß, der viel thut, ſondern der iſts im eigentlichen Sinn, der hier ſaͤet, und dort tauſendfaͤltig erndtet. Wilhelm Stilling war ein Thraͤnenſaͤer — er ging hin und weinte, und trug edlen Saamen, jetzt wird er nun auch wohl mit Freuden erndten. Seine Kinder, Heinrich und Eliſe, freuen
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noch kaum merkbare Ziel, damit er kein Tempo verſaͤumen moͤchte.
Ungefaͤhr um die naͤmliche Zeit, oder noch Etwas ſpaͤter,
bekam er auch einen Brief vom Pfarrer Koͤnig zu Burgdorf
im Emmenthal im Kanton Bern, daß er kommen moͤchte,
denn fuͤr die Sicherheit der Reiſekoſten ſey geſorgt. Dieſer Pfar-
rer Koͤnig war ſtaarblind, und hatte ſchon vorher mit Stil-
ling desfalls correſpondirt; dieſer hatte ihm auch verſprochen
zu kommen, ſobald er nur wiſſe, daß ihm die Reiſekoſten erſtat-
tet wuͤrden. Jetzt fingen alſo Stilling und Eliſe an, ſich
zur zweiten Schweizerreiſe zu ruͤſten.
Waͤhrend aller dieſer Vorfaͤlle nahm Vater Wilhelms Ge-
ſundheitszuſtand, der bisher ſo ganz feſt und dauerhaft geweſen
war, eine ganz andere Richtung: in Anſehung ſeiner Seelenkraͤfte
war er nun ſo ganz Kind geworden, daß er gar keinen Verſtand
und Urtheilskraft mehr hatte; ſein Koͤrper aber fing an, die
zum Leben noͤthigen Verrichtungen zu vernachlaͤßigen; zudem
lag er ſich wund, ſo daß nun ſein Zuſtand hoͤchſt bedauernswuͤr-
dig war, taͤglich mußte der Wundarzt mit ein paar Gehuͤlfen
kommen, um ihm ſeinen wunden Ruͤcken und uͤbrige Theile zu
verbinden, wobei der arme Mann ſo entſetzlich lamentirte, daß
die ganze Nachbarſchaft um ſeine Aufloͤſung betete.
Stilling konnte den Jammer nicht ertragen, er ging gewoͤhn-
lich fort, wenn die Verbindungszeit kam: aber auch zwiſchen
der Zeit winſelte er oͤfters erbaͤrmlich. Endlich kam dann auch
der Tag ſeiner Erloͤſung; am ſechsten September, Abends um
halb zehn Uhr, ging er zu den ſeligen Wohnungen ſeiner Vorfah-
ren uͤber. Stilling ließ ihn mit den Feierlichkeiten begraben,
die in Marburg bei Honoratioren uͤblich ſind.
Wilhelm Stilling iſt alſo nun nicht mehr hienieden; ſein
ſtiller, von den Großen dieſer Erde unbemerkbarer Wandel, war
denn doch Saat auf eine fruchtbare Zukunft. Nicht der iſt im-
mer ein großer Mann, der weit und breit beruͤhmt iſt; — auch
der iſt nicht immer groß, der viel thut, ſondern der iſts im
eigentlichen Sinn, der hier ſaͤet, und dort tauſendfaͤltig erndtet.
Wilhelm Stilling war ein Thraͤnenſaͤer — er ging hin und
weinte, und trug edlen Saamen, jetzt wird er nun auch wohl mit
Freuden erndten. Seine Kinder, Heinrich und Eliſe, freuen
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 558. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/566>, abgerufen am 22.11.2024.
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