gen; ich bitte, diese Grundlage meines Charakters ja nicht aus der Acht zu lassen. Jener erste gute Grundtrieb wurde ganz von außen in mich gebracht, und zwar folgendergestalt:
Meiner Mutter früher Tod legte den Grund zu Allem, damit fing mein himmlischer Führer im zweiten Jahre meines Alters an; wäre sie am Leben geblieben, so war mein Vater ein Bauer, dann mußte ich früh mit ins Feld, ich lernte lesen und schreiben, und das war Alles; mein Kopf und mein Herz wurden dann mit den alltäglichen Dingen angefüllt, und was aus meinem sittlichen Charakter geworden wäre, das weiß Gott. Jetzt aber, da meine Mutter starb, wurde meines Vaters religiöser Cha- rakter auf's höchste gespannt, und durch Umgang mit Mystikern bekam er seine Richtung; er zog sich mit mir in die Einsamkeit zurück, seine Schneiderprofession paßte ganz dazu, und seinen Grundsätzen gemäß, wurde ich ganz von der Welt abgeschieden erzogen; Kopf und Herz bekamen also keine andere Gegenstände zu hören, zu sehen und zu empfinden, als religiöse; ich mußte immer Geschichten und Lebensläufe großer und im Reich Got- tes berühmter, frommer und heiliger Männer und Frauen lesen; dazu kam dann auch das wiederholte Lesen und Wiederlesen der heiligen Schrift; mit einem Wort, ich sahe und hörte nichts als Religion und Christenthum, und Menschen, die dadurch heilig und fromm geworden waren, und für den Herrn und sein Reich gewirkt und gelebt, auch wohl Blut und Leben für ihn aufge- opfert hatten; nun ist aber bekannt, daß die ersten Eindrücke in eine noch ganz leere Seele, besonders wenn sie allein, stark und Jahre lang anhaltend sind, dem ganzen Wesen des Menschen gleichsam unauslöschbar eingeätzt werden, das war also auch mein Fall: jener Grundtrieb: weit ausgebreitete, ins Große und Ganze gehende Wirksamkeit, für Je- sum Christum, seine Religion und sein Reich, wurde meinem ganzen Wesen so tief eingeprägt, daß ihn während so vieler Jahre kein Leiden und kein Schicksal schwächen konnten, er ist im Gegentheil immer stärker und unüberwindlicher gewor- den; wurde er auch zu Zeiten durch dunkle Aussichten auf kurz oder lang dem Anschauen entrückt, so fiel er mir hernach doch wieder um so viel deutlicher in die Augen. Daß ich als Kind
gen; ich bitte, dieſe Grundlage meines Charakters ja nicht aus der Acht zu laſſen. Jener erſte gute Grundtrieb wurde ganz von außen in mich gebracht, und zwar folgendergeſtalt:
Meiner Mutter fruͤher Tod legte den Grund zu Allem, damit fing mein himmliſcher Fuͤhrer im zweiten Jahre meines Alters an; waͤre ſie am Leben geblieben, ſo war mein Vater ein Bauer, dann mußte ich fruͤh mit ins Feld, ich lernte leſen und ſchreiben, und das war Alles; mein Kopf und mein Herz wurden dann mit den alltaͤglichen Dingen angefuͤllt, und was aus meinem ſittlichen Charakter geworden waͤre, das weiß Gott. Jetzt aber, da meine Mutter ſtarb, wurde meines Vaters religioͤſer Cha- rakter auf’s hoͤchſte geſpannt, und durch Umgang mit Myſtikern bekam er ſeine Richtung; er zog ſich mit mir in die Einſamkeit zuruͤck, ſeine Schneiderprofeſſion paßte ganz dazu, und ſeinen Grundſaͤtzen gemaͤß, wurde ich ganz von der Welt abgeſchieden erzogen; Kopf und Herz bekamen alſo keine andere Gegenſtaͤnde zu hoͤren, zu ſehen und zu empfinden, als religioͤſe; ich mußte immer Geſchichten und Lebenslaͤufe großer und im Reich Got- tes beruͤhmter, frommer und heiliger Maͤnner und Frauen leſen; dazu kam dann auch das wiederholte Leſen und Wiederleſen der heiligen Schrift; mit einem Wort, ich ſahe und hoͤrte nichts als Religion und Chriſtenthum, und Menſchen, die dadurch heilig und fromm geworden waren, und fuͤr den Herrn und ſein Reich gewirkt und gelebt, auch wohl Blut und Leben fuͤr ihn aufge- opfert hatten; nun iſt aber bekannt, daß die erſten Eindruͤcke in eine noch ganz leere Seele, beſonders wenn ſie allein, ſtark und Jahre lang anhaltend ſind, dem ganzen Weſen des Menſchen gleichſam unausloͤſchbar eingeaͤtzt werden, das war alſo auch mein Fall: jener Grundtrieb: weit ausgebreitete, ins Große und Ganze gehende Wirkſamkeit, fuͤr Je- ſum Chriſtum, ſeine Religion und ſein Reich, wurde meinem ganzen Weſen ſo tief eingepraͤgt, daß ihn waͤhrend ſo vieler Jahre kein Leiden und kein Schickſal ſchwaͤchen konnten, er iſt im Gegentheil immer ſtaͤrker und unuͤberwindlicher gewor- den; wurde er auch zu Zeiten durch dunkle Ausſichten auf kurz oder lang dem Anſchauen entruͤckt, ſo fiel er mir hernach doch wieder um ſo viel deutlicher in die Augen. Daß ich als Kind
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gen; ich bitte, dieſe Grundlage meines Charakters ja nicht aus
der Acht zu laſſen. Jener erſte gute Grundtrieb wurde ganz von
außen in mich gebracht, und zwar folgendergeſtalt:
Meiner Mutter fruͤher Tod legte den Grund zu Allem, damit
fing mein himmliſcher Fuͤhrer im zweiten Jahre meines Alters an;
waͤre ſie am Leben geblieben, ſo war mein Vater ein Bauer, dann
mußte ich fruͤh mit ins Feld, ich lernte leſen und ſchreiben,
und das war Alles; mein Kopf und mein Herz wurden dann
mit den alltaͤglichen Dingen angefuͤllt, und was aus meinem
ſittlichen Charakter geworden waͤre, das weiß Gott. Jetzt aber,
da meine Mutter ſtarb, wurde meines Vaters religioͤſer Cha-
rakter auf’s hoͤchſte geſpannt, und durch Umgang mit Myſtikern
bekam er ſeine Richtung; er zog ſich mit mir in die Einſamkeit
zuruͤck, ſeine Schneiderprofeſſion paßte ganz dazu, und ſeinen
Grundſaͤtzen gemaͤß, wurde ich ganz von der Welt abgeſchieden
erzogen; Kopf und Herz bekamen alſo keine andere Gegenſtaͤnde
zu hoͤren, zu ſehen und zu empfinden, als religioͤſe; ich mußte
immer Geſchichten und Lebenslaͤufe großer und im Reich Got-
tes beruͤhmter, frommer und heiliger Maͤnner und Frauen leſen;
dazu kam dann auch das wiederholte Leſen und Wiederleſen der
heiligen Schrift; mit einem Wort, ich ſahe und hoͤrte nichts als
Religion und Chriſtenthum, und Menſchen, die dadurch heilig
und fromm geworden waren, und fuͤr den Herrn und ſein Reich
gewirkt und gelebt, auch wohl Blut und Leben fuͤr ihn aufge-
opfert hatten; nun iſt aber bekannt, daß die erſten Eindruͤcke in
eine noch ganz leere Seele, beſonders wenn ſie allein, ſtark und
Jahre lang anhaltend ſind, dem ganzen Weſen des Menſchen
gleichſam unausloͤſchbar eingeaͤtzt werden, das war alſo auch
mein Fall: jener Grundtrieb: weit ausgebreitete, ins
Große und Ganze gehende Wirkſamkeit, fuͤr Je-
ſum Chriſtum, ſeine Religion und ſein Reich, wurde
meinem ganzen Weſen ſo tief eingepraͤgt, daß ihn waͤhrend ſo
vieler Jahre kein Leiden und kein Schickſal ſchwaͤchen konnten,
er iſt im Gegentheil immer ſtaͤrker und unuͤberwindlicher gewor-
den; wurde er auch zu Zeiten durch dunkle Ausſichten auf kurz
oder lang dem Anſchauen entruͤckt, ſo fiel er mir hernach doch
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 587. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/595>, abgerufen am 31.10.2024.
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