Wie mag aber wohl die Vernunft zu dieser Idee gekommen seyn? -- Antw. auf einem sehr natürlichen Wege; sie suchte sich von dem Daseyn eines höchsten Wesens zu überzeugen, und dann auch seine Natur und Eigenschaften zu ergründen; und da sie in der ganzen sinnlichen Schöpfung kein anderes vernünf- tiges Wesen kennt, als sich selbst, so abstrahirt sie alle Schran- ken von der menschlichen Seele weg, und findet alsdann eine unendliche vernünftige, allmächtige, allwissende, allliebende, all- gegenwärtige menschliche Seele, die sie nun Gott nennt; so wie nun ein menschlicher Künstler ein Kunstwerk, z. B. eine Uhr macht, diese Uhr aber sehr unvollkommen seyn würde, wenn der Künstler immerfort bald hier bald da, ein Rädchen drehen, rücken, oder auf irgend eine Art immer nachhelfen müßte, so hat der höchst vollkommene Künstler auch eine Maschine gemacht, die aber, eben darum, weil der Meister höchst vollkommen ist, auch höchst vollkommen seyn muß, und also nirgend einer Nach- hülfe oder Mitwirkung des Künstlers nöthig haben darf.
Daß aber dieser schreckliche Grundsatz nicht wahr ist, das sagt uns unser eigenes Freiheitsgefühl, aber auch eben die näm- liche Vernunft: denn wenn er wahr wäre, so wäre -- man mag sich drehen und wenden wie man will -- jede menschliche Handlung, so wie sie geschieht, vom Schöpfer bestimmt. Die greulichsten Thaten, die irgend nur Menschen begehen können, und die schrecklichsten Leiden, die sich die Menschen unter ein- ander zufügen, alle die Unterdrückungen der Wittwen und Wai- sen, alle Greuel des Kriegs, u. s. w., daß Alles hat der Gott der neuen Aufklärung gewollt: denn Er hat ja die Natur so eingerichtet, daß das Alles erfolgen mußte, u. s. w.
Daß jede nur einigermaßen vernünftige Vernunft, vor die- sem gewiß logisch richtigen Folgesatz zurückbeben muß, wird Niemand läugnen -- folglich steht hier die Vernunft mit sich selbst im Widerspruch, und wo das der Fall ist, da hört ihr Gebiet auf, da ist ihre Grenze. Schrecklicher läßt sich nichts denken, als wenn man die menschliche Vernunft, besonders in unsern Zeiten, wo der unbändigste Luxus und die unbändigste Sittenlosigkeit mit einander wetteifern, auf solche Wege leitet -- und nun das noch gar christliche Religion nennen will -- o der ungeheuern Gotteslästerung!
Wie mag aber wohl die Vernunft zu dieſer Idee gekommen ſeyn? — Antw. auf einem ſehr natuͤrlichen Wege; ſie ſuchte ſich von dem Daſeyn eines hoͤchſten Weſens zu uͤberzeugen, und dann auch ſeine Natur und Eigenſchaften zu ergruͤnden; und da ſie in der ganzen ſinnlichen Schoͤpfung kein anderes vernuͤnf- tiges Weſen kennt, als ſich ſelbſt, ſo abſtrahirt ſie alle Schran- ken von der menſchlichen Seele weg, und findet alsdann eine unendliche vernuͤnftige, allmaͤchtige, allwiſſende, allliebende, all- gegenwaͤrtige menſchliche Seele, die ſie nun Gott nennt; ſo wie nun ein menſchlicher Kuͤnſtler ein Kunſtwerk, z. B. eine Uhr macht, dieſe Uhr aber ſehr unvollkommen ſeyn wuͤrde, wenn der Kuͤnſtler immerfort bald hier bald da, ein Raͤdchen drehen, ruͤcken, oder auf irgend eine Art immer nachhelfen muͤßte, ſo hat der hoͤchſt vollkommene Kuͤnſtler auch eine Maſchine gemacht, die aber, eben darum, weil der Meiſter hoͤchſt vollkommen iſt, auch hoͤchſt vollkommen ſeyn muß, und alſo nirgend einer Nach- huͤlfe oder Mitwirkung des Kuͤnſtlers noͤthig haben darf.
Daß aber dieſer ſchreckliche Grundſatz nicht wahr iſt, das ſagt uns unſer eigenes Freiheitsgefuͤhl, aber auch eben die naͤm- liche Vernunft: denn wenn er wahr waͤre, ſo waͤre — man mag ſich drehen und wenden wie man will — jede menſchliche Handlung, ſo wie ſie geſchieht, vom Schoͤpfer beſtimmt. Die greulichſten Thaten, die irgend nur Menſchen begehen koͤnnen, und die ſchrecklichſten Leiden, die ſich die Menſchen unter ein- ander zufuͤgen, alle die Unterdruͤckungen der Wittwen und Wai- ſen, alle Greuel des Kriegs, u. ſ. w., daß Alles hat der Gott der neuen Aufklaͤrung gewollt: denn Er hat ja die Natur ſo eingerichtet, daß das Alles erfolgen mußte, u. ſ. w.
Daß jede nur einigermaßen vernuͤnftige Vernunft, vor die- ſem gewiß logiſch richtigen Folgeſatz zuruͤckbeben muß, wird Niemand laͤugnen — folglich ſteht hier die Vernunft mit ſich ſelbſt im Widerſpruch, und wo das der Fall iſt, da hoͤrt ihr Gebiet auf, da iſt ihre Grenze. Schrecklicher laͤßt ſich nichts denken, als wenn man die menſchliche Vernunft, beſonders in unſern Zeiten, wo der unbaͤndigſte Luxus und die unbaͤndigſte Sittenloſigkeit mit einander wetteifern, auf ſolche Wege leitet — und nun das noch gar chriſtliche Religion nennen will — o der ungeheuern Gotteslaͤſterung!
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Wie mag aber wohl die Vernunft zu dieſer Idee gekommen
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ſich von dem Daſeyn eines hoͤchſten Weſens zu uͤberzeugen, und
dann auch ſeine Natur und Eigenſchaften zu ergruͤnden; und
da ſie in der ganzen ſinnlichen Schoͤpfung kein anderes vernuͤnf-
tiges Weſen kennt, als ſich ſelbſt, ſo abſtrahirt ſie alle Schran-
ken von der menſchlichen Seele weg, und findet alsdann eine
unendliche vernuͤnftige, allmaͤchtige, allwiſſende, allliebende, all-
gegenwaͤrtige menſchliche Seele, die ſie nun Gott nennt; ſo wie
nun ein menſchlicher Kuͤnſtler ein Kunſtwerk, z. B. eine Uhr
macht, dieſe Uhr aber ſehr unvollkommen ſeyn wuͤrde, wenn
der Kuͤnſtler immerfort bald hier bald da, ein Raͤdchen drehen,
ruͤcken, oder auf irgend eine Art immer nachhelfen muͤßte, ſo
hat der hoͤchſt vollkommene Kuͤnſtler auch eine Maſchine gemacht,
die aber, eben darum, weil der Meiſter hoͤchſt vollkommen iſt,
auch hoͤchſt vollkommen ſeyn muß, und alſo nirgend einer Nach-
huͤlfe oder Mitwirkung des Kuͤnſtlers noͤthig haben darf.
Daß aber dieſer ſchreckliche Grundſatz nicht wahr iſt, das
ſagt uns unſer eigenes Freiheitsgefuͤhl, aber auch eben die naͤm-
liche Vernunft: denn wenn er wahr waͤre, ſo waͤre — man
mag ſich drehen und wenden wie man will — jede menſchliche
Handlung, ſo wie ſie geſchieht, vom Schoͤpfer beſtimmt. Die
greulichſten Thaten, die irgend nur Menſchen begehen koͤnnen,
und die ſchrecklichſten Leiden, die ſich die Menſchen unter ein-
ander zufuͤgen, alle die Unterdruͤckungen der Wittwen und Wai-
ſen, alle Greuel des Kriegs, u. ſ. w., daß Alles hat der Gott
der neuen Aufklaͤrung gewollt: denn Er hat ja die Natur
ſo eingerichtet, daß das Alles erfolgen mußte, u. ſ. w.
Daß jede nur einigermaßen vernuͤnftige Vernunft, vor die-
ſem gewiß logiſch richtigen Folgeſatz zuruͤckbeben muß, wird
Niemand laͤugnen — folglich ſteht hier die Vernunft
mit ſich ſelbſt im Widerſpruch, und wo das der Fall
iſt, da hoͤrt ihr Gebiet auf, da iſt ihre Grenze. Schrecklicher
laͤßt ſich nichts denken, als wenn man die menſchliche Vernunft,
beſonders in unſern Zeiten, wo der unbaͤndigſte Luxus und die
unbaͤndigſte Sittenloſigkeit mit einander wetteifern, auf ſolche
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 606. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/614>, abgerufen am 24.11.2024.
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