Wir genossen in dieser angenehmen Stadt viele Freundschaft, und ich hatte Gelegenheit genug, auch Leidenden zu dienen. Nach einem Aufenthalt von sechs Tagen reisten wir von Gör- litz nach Niesky, einem ansehnlichen Brüdergemeindeort, wo sich auch das Seminarium befindet, in welchem junge Leute zum Lehramt vorbereitet und gebildet werden. Hier lernte ich vortreffliche und gelehrte Männer, auch sonst interessante Mit- glieder der Brüdergemeinde kennen, die uns auch viele Liebe und Freundschaft bewiesen.
Des folgenden Tages fuhr ich einige Stunden weit auf's Land, um einen blinden Standesherrn zu operiren; ich sah die sogenannte Schneekuppe, den höchsten Gipfel des Riesenge- birges, in der Ferne vor mir; mir dünkt doch, daß der Blauen, am obern Ende des Schwarzwaldes, noch höher, als der Brocken und die Schneekuppe sey, indessen sind diese Berge nur Hügel gegen die Schweizeralpen.
Am Nachmittag kehrte ich wieder nach Niesky zurück; wir logirten im Gasthofe der Gemeinde, wie das an allen Ge- meindeorten gewöhnlich ist; mit allen dem Besuchen und Besucht- werden, mit allen Operationen und Augenkuren mag ich meine Leser nicht aufhalten; das war, wie allenthalben, wo ich hin kam; nur Eine Bemerkung muß ich hier einschalten. Die Lau- sitz hat ihre ganz eigene Verfassung; sie besteht aus lauter großen adelichen Gütern, welche Standesherrschaften, so wie die adelichen Besitzer auch Standesherren genannt werden. Bertholsdorf ist eben eine solche Herrschaft; sie gehört aber jetzt der Brüdergemeinde, die ihren Standesherrn aus ihren Mitgliedern wählt, deren immer mehrere von Adel sind. Dann gehören auch sechs Städte zur Lausitz, unter denen Bautzen und Görlitz die ersten sind; auch diese sechs Städte haben ihre besondern Freiheiten und Vorzüge.
Die Unterthanen aller dieser Herrschaften sind durchgehends Wenden, nämlich Nachkommen der alten Vandalischen Nation, die zur Zeit der Völkerwanderungen eine so große Rolle spielte. Sie bekennen sich alle zur christlichen Religion, haben aber noch immer ihre eigene Sprache, ob sie gleich fast alle
Wir genoſſen in dieſer angenehmen Stadt viele Freundſchaft, und ich hatte Gelegenheit genug, auch Leidenden zu dienen. Nach einem Aufenthalt von ſechs Tagen reisten wir von Goͤr- litz nach Niesky, einem anſehnlichen Bruͤdergemeindeort, wo ſich auch das Seminarium befindet, in welchem junge Leute zum Lehramt vorbereitet und gebildet werden. Hier lernte ich vortreffliche und gelehrte Maͤnner, auch ſonſt intereſſante Mit- glieder der Bruͤdergemeinde kennen, die uns auch viele Liebe und Freundſchaft bewieſen.
Des folgenden Tages fuhr ich einige Stunden weit auf’s Land, um einen blinden Standesherrn zu operiren; ich ſah die ſogenannte Schneekuppe, den hoͤchſten Gipfel des Rieſenge- birges, in der Ferne vor mir; mir duͤnkt doch, daß der Blauen, am obern Ende des Schwarzwaldes, noch hoͤher, als der Brocken und die Schneekuppe ſey, indeſſen ſind dieſe Berge nur Huͤgel gegen die Schweizeralpen.
Am Nachmittag kehrte ich wieder nach Niesky zuruͤck; wir logirten im Gaſthofe der Gemeinde, wie das an allen Ge- meindeorten gewoͤhnlich iſt; mit allen dem Beſuchen und Beſucht- werden, mit allen Operationen und Augenkuren mag ich meine Leſer nicht aufhalten; das war, wie allenthalben, wo ich hin kam; nur Eine Bemerkung muß ich hier einſchalten. Die Lau- ſitz hat ihre ganz eigene Verfaſſung; ſie beſteht aus lauter großen adelichen Guͤtern, welche Standesherrſchaften, ſo wie die adelichen Beſitzer auch Standesherren genannt werden. Bertholsdorf iſt eben eine ſolche Herrſchaft; ſie gehoͤrt aber jetzt der Bruͤdergemeinde, die ihren Standesherrn aus ihren Mitgliedern waͤhlt, deren immer mehrere von Adel ſind. Dann gehoͤren auch ſechs Staͤdte zur Lauſitz, unter denen Bautzen und Goͤrlitz die erſten ſind; auch dieſe ſechs Staͤdte haben ihre beſondern Freiheiten und Vorzuͤge.
Die Unterthanen aller dieſer Herrſchaften ſind durchgehends Wenden, naͤmlich Nachkommen der alten Vandaliſchen Nation, die zur Zeit der Voͤlkerwanderungen eine ſo große Rolle ſpielte. Sie bekennen ſich alle zur chriſtlichen Religion, haben aber noch immer ihre eigene Sprache, ob ſie gleich faſt alle
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Wir genoſſen in dieſer angenehmen Stadt viele Freundſchaft,
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Nach einem Aufenthalt von ſechs Tagen reisten wir von Goͤr-
litz nach Niesky, einem anſehnlichen Bruͤdergemeindeort, wo
ſich auch das Seminarium befindet, in welchem junge Leute
zum Lehramt vorbereitet und gebildet werden. Hier lernte ich
vortreffliche und gelehrte Maͤnner, auch ſonſt intereſſante Mit-
glieder der Bruͤdergemeinde kennen, die uns auch viele Liebe und
Freundſchaft bewieſen.
Des folgenden Tages fuhr ich einige Stunden weit auf’s
Land, um einen blinden Standesherrn zu operiren; ich ſah die
ſogenannte Schneekuppe, den hoͤchſten Gipfel des Rieſenge-
birges, in der Ferne vor mir; mir duͤnkt doch, daß der Blauen,
am obern Ende des Schwarzwaldes, noch hoͤher, als der
Brocken und die Schneekuppe ſey, indeſſen ſind dieſe Berge
nur Huͤgel gegen die Schweizeralpen.
Am Nachmittag kehrte ich wieder nach Niesky zuruͤck;
wir logirten im Gaſthofe der Gemeinde, wie das an allen Ge-
meindeorten gewoͤhnlich iſt; mit allen dem Beſuchen und Beſucht-
werden, mit allen Operationen und Augenkuren mag ich meine
Leſer nicht aufhalten; das war, wie allenthalben, wo ich hin
kam; nur Eine Bemerkung muß ich hier einſchalten. Die Lau-
ſitz hat ihre ganz eigene Verfaſſung; ſie beſteht aus lauter
großen adelichen Guͤtern, welche Standesherrſchaften, ſo
wie die adelichen Beſitzer auch Standesherren genannt
werden. Bertholsdorf iſt eben eine ſolche Herrſchaft; ſie
gehoͤrt aber jetzt der Bruͤdergemeinde, die ihren Standesherrn
aus ihren Mitgliedern waͤhlt, deren immer mehrere von Adel ſind.
Dann gehoͤren auch ſechs Staͤdte zur Lauſitz, unter denen
Bautzen und Goͤrlitz die erſten ſind; auch dieſe ſechs Staͤdte
haben ihre beſondern Freiheiten und Vorzuͤge.
Die Unterthanen aller dieſer Herrſchaften ſind durchgehends
Wenden, naͤmlich Nachkommen der alten Vandaliſchen
Nation, die zur Zeit der Voͤlkerwanderungen eine ſo große Rolle
ſpielte. Sie bekennen ſich alle zur chriſtlichen Religion, haben
aber noch immer ihre eigene Sprache, ob ſie gleich faſt alle
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 622. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/630>, abgerufen am 24.11.2024.
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