teusch verstehen und sprechen; auch findet man noch Kirchen, worin Wendisch gepredigt wird. Alle sind leibeigen.
Des folgenden Tages bekamen wir eine Einladung von einer benachbarten Standesherrschaft, wir sollten ein paar Tage bei ihnen zubringen, damit ich eine alte blinde Frau in ihrem eigenen Hause operiren könnte; wir fuhren also des Nachmittags nach diesem pa- radiesischen Landsitz hin. Am Abend nahm mich die Edelfrau am Arm, und führte mich durch hügelichte Baumgärten, am Ende des Dorfs, in eine kleine, ärmliche, aber reinliche und wohl erhaltene Bauernhütte; wir fanden im dunkeln Stübchen ein altes blindes Mütterchen auf einem Stuhl sitzen.
Guten Abend, Mütterchen! sagte die Gräfin: Hier schickt dir der liebe Gott einen Freund, durch den er dir dein Gesicht wieder schenken will.
Die Frau fuhr vom Stuhl auf, strebte vorwärts, streckte die Hände aus und stöhnte mit Thränen: wo sind Sie, Engel Gottes? Die Gräfin küßte sie auf eine Wange, und sagte: setze dich, Mütterchen! hier hast du Etwas, das mußt du morgen einnehmen, und übermorgen bring' ich dir dann diesen Freund, der dir die Augen öffnen wird. Ich sprach auch noch einige freund- liche Trostworte mit der alten Bäuerin, und dann gingen wir nach Hause. Am bestimmten Tage, des Morgens, ging ich mit der Gräfin wieder dahin und operirte die Frau; dann stellte ich sie mit ihren nunmehr wieder geöffneten Augen vor die Gräfin. Nein! solche Augenblicke sind schlechterdings unbeschreiblich. -- Das war ein schwaches Bild von der Scene, die ich bald erleben werde, wenn ich armer Sünder nackt und blos vor Ihm erscheinen und Ihn dann mit geöffneten Augen sehen werde, wie Er ist. Mit Thränen der Freude umarmte die Gräfin das hochglückliche Weib; dann gingen wir wieder nach Hause; daß die Patientin nach Wunsch verpflegt wurde, das ist leicht zu. denken. -- Aber nun hatte die gute Gräfin noch eine andere Herzensangelegenheit: es kam nun darauf an, wie sie mir auf eine zarte, gefühlige Art die 200 Thaler, die sie für mich als Belo'h- nung für die Operation bestimmt hatte, in die Hände bringen sollte; auch das führte sie meisterhaft aus.
Selig bist du nun, durch viele Leiden vollendete, schwer ge-
teuſch verſtehen und ſprechen; auch findet man noch Kirchen, worin Wendiſch gepredigt wird. Alle ſind leibeigen.
Des folgenden Tages bekamen wir eine Einladung von einer benachbarten Standesherrſchaft, wir ſollten ein paar Tage bei ihnen zubringen, damit ich eine alte blinde Frau in ihrem eigenen Hauſe operiren koͤnnte; wir fuhren alſo des Nachmittags nach dieſem pa- radieſiſchen Landſitz hin. Am Abend nahm mich die Edelfrau am Arm, und fuͤhrte mich durch huͤgelichte Baumgaͤrten, am Ende des Dorfs, in eine kleine, aͤrmliche, aber reinliche und wohl erhaltene Bauernhuͤtte; wir fanden im dunkeln Stuͤbchen ein altes blindes Muͤtterchen auf einem Stuhl ſitzen.
Guten Abend, Muͤtterchen! ſagte die Graͤfin: Hier ſchickt dir der liebe Gott einen Freund, durch den er dir dein Geſicht wieder ſchenken will.
Die Frau fuhr vom Stuhl auf, ſtrebte vorwaͤrts, ſtreckte die Haͤnde aus und ſtoͤhnte mit Thraͤnen: wo ſind Sie, Engel Gottes? Die Graͤfin kuͤßte ſie auf eine Wange, und ſagte: ſetze dich, Muͤtterchen! hier haſt du Etwas, das mußt du morgen einnehmen, und uͤbermorgen bring’ ich dir dann dieſen Freund, der dir die Augen oͤffnen wird. Ich ſprach auch noch einige freund- liche Troſtworte mit der alten Baͤuerin, und dann gingen wir nach Hauſe. Am beſtimmten Tage, des Morgens, ging ich mit der Graͤfin wieder dahin und operirte die Frau; dann ſtellte ich ſie mit ihren nunmehr wieder geoͤffneten Augen vor die Graͤfin. Nein! ſolche Augenblicke ſind ſchlechterdings unbeſchreiblich. — Das war ein ſchwaches Bild von der Scene, die ich bald erleben werde, wenn ich armer Suͤnder nackt und blos vor Ihm erſcheinen und Ihn dann mit geoͤffneten Augen ſehen werde, wie Er iſt. Mit Thraͤnen der Freude umarmte die Graͤfin das hochgluͤckliche Weib; dann gingen wir wieder nach Hauſe; daß die Patientin nach Wunſch verpflegt wurde, das iſt leicht zu. denken. — Aber nun hatte die gute Graͤfin noch eine andere Herzensangelegenheit: es kam nun darauf an, wie ſie mir auf eine zarte, gefuͤhlige Art die 200 Thaler, die ſie fuͤr mich als Belo’h- nung fuͤr die Operation beſtimmt hatte, in die Haͤnde bringen ſollte; auch das fuͤhrte ſie meiſterhaft aus.
Selig biſt du nun, durch viele Leiden vollendete, ſchwer ge-
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teuſch verſtehen und ſprechen; auch findet man noch Kirchen,
worin Wendiſch gepredigt wird. Alle ſind leibeigen.
Des folgenden Tages bekamen wir eine Einladung von einer
benachbarten Standesherrſchaft, wir ſollten ein paar Tage bei ihnen
zubringen, damit ich eine alte blinde Frau in ihrem eigenen Hauſe
operiren koͤnnte; wir fuhren alſo des Nachmittags nach dieſem pa-
radieſiſchen Landſitz hin. Am Abend nahm mich die Edelfrau
am Arm, und fuͤhrte mich durch huͤgelichte Baumgaͤrten, am
Ende des Dorfs, in eine kleine, aͤrmliche, aber reinliche und wohl
erhaltene Bauernhuͤtte; wir fanden im dunkeln Stuͤbchen ein
altes blindes Muͤtterchen auf einem Stuhl ſitzen.
Guten Abend, Muͤtterchen! ſagte die Graͤfin: Hier ſchickt
dir der liebe Gott einen Freund, durch den er dir dein Geſicht
wieder ſchenken will.
Die Frau fuhr vom Stuhl auf, ſtrebte vorwaͤrts, ſtreckte
die Haͤnde aus und ſtoͤhnte mit Thraͤnen: wo ſind Sie, Engel
Gottes? Die Graͤfin kuͤßte ſie auf eine Wange, und ſagte: ſetze
dich, Muͤtterchen! hier haſt du Etwas, das mußt du morgen
einnehmen, und uͤbermorgen bring’ ich dir dann dieſen Freund, der
dir die Augen oͤffnen wird. Ich ſprach auch noch einige freund-
liche Troſtworte mit der alten Baͤuerin, und dann gingen wir
nach Hauſe. Am beſtimmten Tage, des Morgens, ging ich mit
der Graͤfin wieder dahin und operirte die Frau; dann ſtellte ich
ſie mit ihren nunmehr wieder geoͤffneten Augen vor die Graͤfin.
Nein! ſolche Augenblicke ſind ſchlechterdings unbeſchreiblich.
— Das war ein ſchwaches Bild von der Scene, die ich bald
erleben werde, wenn ich armer Suͤnder nackt und blos vor Ihm
erſcheinen und Ihn dann mit geoͤffneten Augen ſehen werde, wie
Er iſt. Mit Thraͤnen der Freude umarmte die Graͤfin das
hochgluͤckliche Weib; dann gingen wir wieder nach Hauſe; daß
die Patientin nach Wunſch verpflegt wurde, das iſt leicht zu.
denken. — Aber nun hatte die gute Graͤfin noch eine andere
Herzensangelegenheit: es kam nun darauf an, wie ſie mir auf eine
zarte, gefuͤhlige Art die 200 Thaler, die ſie fuͤr mich als Belo’h-
nung fuͤr die Operation beſtimmt hatte, in die Haͤnde bringen
ſollte; auch das fuͤhrte ſie meiſterhaft aus.
Selig biſt du nun, durch viele Leiden vollendete, ſchwer ge-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 623. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/631>, abgerufen am 24.11.2024.
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