"wenn ich ein doppeltes Ich hätte, ein geistiges "und ein leibliches. Das geistige Ich schwebt "über dem thierischen. Beide sind in dem Men- "schen im Kampfe, und nur durch Abtödtung alles "sinnlichen Begehrens kann man dahin kommen, "daß es nicht mehr zusammenhängt. Aber durch "eigene Kraft nicht, sondern durch Selbstverläug- "nung mit dem Beistande Gottes."
Jede andere Unterhaltung, als die von Gott und dessen Heils- anstalten, war ihm lästig, und deßhalb sagte er: "Er habe "seit seinem Krankenlager noch keinen Augen- "blick lange Weile gehabt; aber seit dem Tode "seiner Frau werde ihm die Zeit lange." Denn die Vollendete war ihm zur unentbehrlichen Lebensgefährtin und Seelenfreundin geworden durch ihre aufopfernde Liebe und Sorgfalt für ihn, wie durch ihre Theilnahme auch an dem Ge- ringsten, was ihn betraf. Sie war voll Zärtlichkeit auch gegen ihre zugebrachten Kinder, und überhaupt ein Muster von Men- schenfreundlichkeit und Milde, von Selbstverläugnung und Demuth und ihm deßhalb so unendlich viel werth. Darum sehnte er sich desto mehr daheim zu seyn, aller irdischen Gedanken und Sorgen enthoben. Täglich wuchs seine Mattigkeit, und da er seit einem halben Jahre vor jeder substantiösen Speise einen unüberwindlichen Widerwillen bekommen, den auch die geschicktesten ärztlichen Bemühungen und alle Sorgfalt der Freunde nicht zu benehmen vermochten, und da das Wasser in der Brust anschwoll, so war es voraus zu sehen, daß der theure Mann nur noch einige Tage als lebendiges Vorbild unter uns verweilen werde. In diesen Lagen sagte er zu einer Freundin: "Jetzt geht es bald!" Und als sie erwiederte: "Ach! was sind Sie glücklich, daß Sie dieß sagen können," antwortete er ihr freundlich: "Nun das "freut mich, daß Sie das erkennen!"
Als wir sein nahes Ende erfuhren, ermannten wir uns in dem Schmerze, und suchten noch jeden Augenblick seiner Gegen- wart zur Erbauung und Stärkung im Glauben zu benutzen. Denn hatte seine Umgebung je diesen segensreichen Einfluß, so war es auf dem Sterbebette, wo er mit der bewundernswerthe-
„wenn ich ein doppeltes Ich haͤtte, ein geiſtiges „und ein leibliches. Das geiſtige Ich ſchwebt „uͤber dem thieriſchen. Beide ſind in dem Men- „ſchen im Kampfe, und nur durch Abtoͤdtung alles „ſinnlichen Begehrens kann man dahin kommen, „daß es nicht mehr zuſammenhaͤngt. Aber durch „eigene Kraft nicht, ſondern durch Selbſtverlaͤug- „nung mit dem Beiſtande Gottes.“
Jede andere Unterhaltung, als die von Gott und deſſen Heils- anſtalten, war ihm laͤſtig, und deßhalb ſagte er: „Er habe „ſeit ſeinem Krankenlager noch keinen Augen- „blick lange Weile gehabt; aber ſeit dem Tode „ſeiner Frau werde ihm die Zeit lange.“ Denn die Vollendete war ihm zur unentbehrlichen Lebensgefaͤhrtin und Seelenfreundin geworden durch ihre aufopfernde Liebe und Sorgfalt fuͤr ihn, wie durch ihre Theilnahme auch an dem Ge- ringſten, was ihn betraf. Sie war voll Zaͤrtlichkeit auch gegen ihre zugebrachten Kinder, und uͤberhaupt ein Muſter von Men- ſchenfreundlichkeit und Milde, von Selbſtverlaͤugnung und Demuth und ihm deßhalb ſo unendlich viel werth. Darum ſehnte er ſich deſto mehr daheim zu ſeyn, aller irdiſchen Gedanken und Sorgen enthoben. Taͤglich wuchs ſeine Mattigkeit, und da er ſeit einem halben Jahre vor jeder ſubſtantioͤſen Speiſe einen unuͤberwindlichen Widerwillen bekommen, den auch die geſchickteſten aͤrztlichen Bemuͤhungen und alle Sorgfalt der Freunde nicht zu benehmen vermochten, und da das Waſſer in der Bruſt anſchwoll, ſo war es voraus zu ſehen, daß der theure Mann nur noch einige Tage als lebendiges Vorbild unter uns verweilen werde. In dieſen Lagen ſagte er zu einer Freundin: „Jetzt geht es bald!“ Und als ſie erwiederte: „Ach! was ſind Sie gluͤcklich, daß Sie dieß ſagen koͤnnen,“ antwortete er ihr freundlich: „Nun das „freut mich, daß Sie das erkennen!“
Als wir ſein nahes Ende erfuhren, ermannten wir uns in dem Schmerze, und ſuchten noch jeden Augenblick ſeiner Gegen- wart zur Erbauung und Staͤrkung im Glauben zu benutzen. Denn hatte ſeine Umgebung je dieſen ſegensreichen Einfluß, ſo war es auf dem Sterbebette, wo er mit der bewundernswerthe-
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„wenn ich ein doppeltes Ich haͤtte, ein geiſtiges
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„ſchen im Kampfe, und nur durch Abtoͤdtung alles
„ſinnlichen Begehrens kann man dahin kommen,
„daß es nicht mehr zuſammenhaͤngt. Aber durch
„eigene Kraft nicht, ſondern durch Selbſtverlaͤug-
„nung mit dem Beiſtande Gottes.“
Jede andere Unterhaltung, als die von Gott und deſſen Heils-
anſtalten, war ihm laͤſtig, und deßhalb ſagte er: „Er habe
„ſeit ſeinem Krankenlager noch keinen Augen-
„blick lange Weile gehabt; aber ſeit dem Tode
„ſeiner Frau werde ihm die Zeit lange.“ Denn die
Vollendete war ihm zur unentbehrlichen Lebensgefaͤhrtin und
Seelenfreundin geworden durch ihre aufopfernde Liebe und
Sorgfalt fuͤr ihn, wie durch ihre Theilnahme auch an dem Ge-
ringſten, was ihn betraf. Sie war voll Zaͤrtlichkeit auch gegen
ihre zugebrachten Kinder, und uͤberhaupt ein Muſter von Men-
ſchenfreundlichkeit und Milde, von Selbſtverlaͤugnung und Demuth
und ihm deßhalb ſo unendlich viel werth. Darum ſehnte er ſich
deſto mehr daheim zu ſeyn, aller irdiſchen Gedanken und Sorgen
enthoben. Taͤglich wuchs ſeine Mattigkeit, und da er ſeit einem
halben Jahre vor jeder ſubſtantioͤſen Speiſe einen unuͤberwindlichen
Widerwillen bekommen, den auch die geſchickteſten aͤrztlichen
Bemuͤhungen und alle Sorgfalt der Freunde nicht zu benehmen
vermochten, und da das Waſſer in der Bruſt anſchwoll, ſo war
es voraus zu ſehen, daß der theure Mann nur noch einige Tage
als lebendiges Vorbild unter uns verweilen werde. In dieſen
Lagen ſagte er zu einer Freundin: „Jetzt geht es bald!“
Und als ſie erwiederte: „Ach! was ſind Sie gluͤcklich, daß Sie
dieß ſagen koͤnnen,“ antwortete er ihr freundlich: „Nun das
„freut mich, daß Sie das erkennen!“
Als wir ſein nahes Ende erfuhren, ermannten wir uns in
dem Schmerze, und ſuchten noch jeden Augenblick ſeiner Gegen-
wart zur Erbauung und Staͤrkung im Glauben zu benutzen.
Denn hatte ſeine Umgebung je dieſen ſegensreichen Einfluß, ſo
war es auf dem Sterbebette, wo er mit der bewundernswerthe-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 635. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/643>, abgerufen am 23.11.2024.
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