Nun sey es erlaubt, noch davon zu reden, wie mir Jung-Stil- lings religiöser Charakter während unserer beinahe 30jährigen Bekanntschaft erschienen. Und fast möchte ich das bloß in den wenigen biblischen Worten zusammenfassen: Christus hatte in ihm eine Gestalt gewonnen.
Das konnte man recht eigentlich von diesem Manne sagen. Sein ganzes Leben sagt es in seinen Schriften, und mehr noch in seiner Art zu wirken und zu seyn. Das Christenthum, von seiner Kindheit auf seiner Seele sehr bestimmt und kräftig einge- flößt, war mit ihm erwachsen, in seine Thätigkeit so wie in seine Denkart übergegangen, und mit seinem Alter gereift. Auch war es selbst der Gegenstand seiner Wirksamkeit geworden; über nichts dachte er lieber, von nichts sprach er tiefer aus dem Herzen, für nichts fühlte er sich innerlich so sehr berufen, als für das Chri- stenthum. Er kannte die Göttlichkeit dieser Religion unmittel- bar, indem ihr Geist ihn bis in sein Innerstes durchdrungen hatte, und in jeder sonst unbedeutend scheinenden Entschließung heraus wirkte, so daß sein Gemüth hierdurch jene Tiefe, Fülle und Kraft erhielt, die sein Leben so vielen erbaulich und bewunderns- würdig machte. Das war die Kraft, die seiner Beredsamkeit das Feuer gab, die aus seinen Augen leuchtete, über sein wür- devolles, männlich schönes Angesicht strahlte, von seinem edlen Haupte an in allen Geberden seiner ansehnlichen Gestalt in freier Lebendigkeit, Anstand und Anmuth verbreitete, den Kreis der Hörenden, ihn immer näher herbeiziehend, erheiterte und erhob, welche nah und fern die Herzen gewann, und Hohen wie Nie- deren einen Mann von der liebenswürdigsten Gradheit, wir möch- ten sagen Naivetät zeigte. Man sah, man hörte, man las ihn und sagte sich selbst: das ist ein Christ.
Er hatte eine kräftige Natur und eine sprühende Lebhaftigkeit. Das setzte ihn auch so manchen schweren Kämpfen in seinem Jünglingsalter aus. Groß war bei ihm die Macht des welt- lichen Sinnes: viel größer die Macht der Religion, und schon in seinem Knabenalter sieggewohnt. Seine Seelenreinheit blieb unbefleckt, und darum war selbst seine körperliche Reinlichkeit von seinem religiösen Sinne gehoben; auch seine geordnete Diät und Nüchternheit hing damit zusammen. Es lag gewissermaßen
Nun ſey es erlaubt, noch davon zu reden, wie mir Jung-Stil- lings religioͤſer Charakter waͤhrend unſerer beinahe 30jaͤhrigen Bekanntſchaft erſchienen. Und faſt moͤchte ich das bloß in den wenigen bibliſchen Worten zuſammenfaſſen: Chriſtus hatte in ihm eine Geſtalt gewonnen.
Das konnte man recht eigentlich von dieſem Manne ſagen. Sein ganzes Leben ſagt es in ſeinen Schriften, und mehr noch in ſeiner Art zu wirken und zu ſeyn. Das Chriſtenthum, von ſeiner Kindheit auf ſeiner Seele ſehr beſtimmt und kraͤftig einge- floͤßt, war mit ihm erwachſen, in ſeine Thaͤtigkeit ſo wie in ſeine Denkart uͤbergegangen, und mit ſeinem Alter gereift. Auch war es ſelbſt der Gegenſtand ſeiner Wirkſamkeit geworden; uͤber nichts dachte er lieber, von nichts ſprach er tiefer aus dem Herzen, fuͤr nichts fuͤhlte er ſich innerlich ſo ſehr berufen, als fuͤr das Chri- ſtenthum. Er kannte die Goͤttlichkeit dieſer Religion unmittel- bar, indem ihr Geiſt ihn bis in ſein Innerſtes durchdrungen hatte, und in jeder ſonſt unbedeutend ſcheinenden Entſchließung heraus wirkte, ſo daß ſein Gemuͤth hierdurch jene Tiefe, Fuͤlle und Kraft erhielt, die ſein Leben ſo vielen erbaulich und bewunderns- wuͤrdig machte. Das war die Kraft, die ſeiner Beredſamkeit das Feuer gab, die aus ſeinen Augen leuchtete, uͤber ſein wuͤr- devolles, maͤnnlich ſchoͤnes Angeſicht ſtrahlte, von ſeinem edlen Haupte an in allen Geberden ſeiner anſehnlichen Geſtalt in freier Lebendigkeit, Anſtand und Anmuth verbreitete, den Kreis der Hoͤrenden, ihn immer naͤher herbeiziehend, erheiterte und erhob, welche nah und fern die Herzen gewann, und Hohen wie Nie- deren einen Mann von der liebenswuͤrdigſten Gradheit, wir moͤch- ten ſagen Naivetaͤt zeigte. Man ſah, man hoͤrte, man las ihn und ſagte ſich ſelbſt: das iſt ein Chriſt.
Er hatte eine kraͤftige Natur und eine ſpruͤhende Lebhaftigkeit. Das ſetzte ihn auch ſo manchen ſchweren Kaͤmpfen in ſeinem Juͤnglingsalter aus. Groß war bei ihm die Macht des welt- lichen Sinnes: viel groͤßer die Macht der Religion, und ſchon in ſeinem Knabenalter ſieggewohnt. Seine Seelenreinheit blieb unbefleckt, und darum war ſelbſt ſeine koͤrperliche Reinlichkeit von ſeinem religioͤſen Sinne gehoben; auch ſeine geordnete Diaͤt und Nuͤchternheit hing damit zuſammen. Es lag gewiſſermaßen
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Nun ſey es erlaubt, noch davon zu reden, wie mir Jung-Stil-
lings religioͤſer Charakter waͤhrend unſerer beinahe 30jaͤhrigen
Bekanntſchaft erſchienen. Und faſt moͤchte ich das bloß in den
wenigen bibliſchen Worten zuſammenfaſſen: Chriſtus hatte
in ihm eine Geſtalt gewonnen.
Das konnte man recht eigentlich von dieſem Manne ſagen.
Sein ganzes Leben ſagt es in ſeinen Schriften, und mehr noch
in ſeiner Art zu wirken und zu ſeyn. Das Chriſtenthum, von
ſeiner Kindheit auf ſeiner Seele ſehr beſtimmt und kraͤftig einge-
floͤßt, war mit ihm erwachſen, in ſeine Thaͤtigkeit ſo wie in ſeine
Denkart uͤbergegangen, und mit ſeinem Alter gereift. Auch war
es ſelbſt der Gegenſtand ſeiner Wirkſamkeit geworden; uͤber nichts
dachte er lieber, von nichts ſprach er tiefer aus dem Herzen, fuͤr
nichts fuͤhlte er ſich innerlich ſo ſehr berufen, als fuͤr das Chri-
ſtenthum. Er kannte die Goͤttlichkeit dieſer Religion unmittel-
bar, indem ihr Geiſt ihn bis in ſein Innerſtes durchdrungen hatte,
und in jeder ſonſt unbedeutend ſcheinenden Entſchließung heraus
wirkte, ſo daß ſein Gemuͤth hierdurch jene Tiefe, Fuͤlle und
Kraft erhielt, die ſein Leben ſo vielen erbaulich und bewunderns-
wuͤrdig machte. Das war die Kraft, die ſeiner Beredſamkeit
das Feuer gab, die aus ſeinen Augen leuchtete, uͤber ſein wuͤr-
devolles, maͤnnlich ſchoͤnes Angeſicht ſtrahlte, von ſeinem edlen
Haupte an in allen Geberden ſeiner anſehnlichen Geſtalt in freier
Lebendigkeit, Anſtand und Anmuth verbreitete, den Kreis der
Hoͤrenden, ihn immer naͤher herbeiziehend, erheiterte und erhob,
welche nah und fern die Herzen gewann, und Hohen wie Nie-
deren einen Mann von der liebenswuͤrdigſten Gradheit, wir moͤch-
ten ſagen Naivetaͤt zeigte. Man ſah, man hoͤrte, man las ihn
und ſagte ſich ſelbſt: das iſt ein Chriſt.
Er hatte eine kraͤftige Natur und eine ſpruͤhende Lebhaftigkeit.
Das ſetzte ihn auch ſo manchen ſchweren Kaͤmpfen in ſeinem
Juͤnglingsalter aus. Groß war bei ihm die Macht des welt-
lichen Sinnes: viel groͤßer die Macht der Religion, und ſchon
in ſeinem Knabenalter ſieggewohnt. Seine Seelenreinheit blieb
unbefleckt, und darum war ſelbſt ſeine koͤrperliche Reinlichkeit von
ſeinem religioͤſen Sinne gehoben; auch ſeine geordnete Diaͤt und
Nuͤchternheit hing damit zuſammen. Es lag gewiſſermaßen
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 652. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/660>, abgerufen am 24.11.2024.
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