Kurz in der liberalen Gesinnung gegen andere Glaubensge- nossen konnte Stilling für manche orthodoxe, und selbst für nicht wenige heterodoxe und die Toleranz im Munde führende Theologen ein Muster seyn. Manche engsinnige Menschen und Frömmlinge waren deßhalb übel genug auf ihn zu sprechen. Als ihm vor einigen Jahren das Ansinnen in einer Schrift gemacht wurde, katholisch zu werden, so regte das seinen ganzen Unwillen auf, den er in einer Gegenschrift aussprach. Er stand zu tief im Wesen des Christenthums, als daß er auf die äußere Form mehr Werth hätte legen sollen, als sie verdient. Ist doch die freundliche Beur- theilung anderer Religionsmeinungen gewöhnlich das Zeichen ächter Religiosität.
Nur gegen Meinungen, die den wesentlichen Lehren des Chri- stenthums seiner Ansicht nach droheten, war er unerbittlich strenge, wenn sie öffentlich auftraten. Er entwarf sich auch da manchmal ein allzugrelles Bild von einem Gegner, so daß er ungerecht wer- den konnte. Mehrmals hielt ich es daher für Pflicht, ihm dieses zu bemerken, das stimmte ihn auch wohl zu milderen Gesinnun- gen; aber ich mußte auch dann die seinige hochachten, wenn wir verschiedener Meinung blieben, denn die seinige hing mit dem heiligen Ernst zusammen, womit er für die Wahrheit stritt, wie sie einmal bei ihm feststand; und ich kannte auch seine Selbst- verläugnung, womit er seine eigne Meinung aufgab, sobald er nur die Wahrheit wirklich auf der Seite des Andern sah. Ge- meiniglich wirkten erst späterhin dergleichen Erinnerungen, nach- dem er alles in seinem fest zusammenhängenden Systeme damit verglichen hatte. Uebrigens war er jederzeit bereit, auch dem bittersten Gegner als Mensch zu helfen, wo er nur konnte. In der persönlichen Unterhaltung wurde er leicht der Freund dessen, den er aus der Ferne ungünstig angesehen hatte; alles dieses aus demselben Herzensgrunde. Von dem Religionslehrer verlangte er mit unerbittlicher Strenge, daß er das Evangelium verkündige, und daß er selbst daran glaube; das erstere, weil er dazu beru- fen, das zweite, weil er sonst ein Heuchler sey.
Jung-Stilling war keineswegs in Allem streng orthodox, auch konnte er es recht gut sehen, daß Andere in kirchlichen Lehren verschieden dachten, wenn sie nur evangelisch waren, und es mit
Kurz in der liberalen Geſinnung gegen andere Glaubensge- noſſen konnte Stilling fuͤr manche orthodoxe, und ſelbſt fuͤr nicht wenige heterodoxe und die Toleranz im Munde fuͤhrende Theologen ein Muſter ſeyn. Manche engſinnige Menſchen und Froͤmmlinge waren deßhalb uͤbel genug auf ihn zu ſprechen. Als ihm vor einigen Jahren das Anſinnen in einer Schrift gemacht wurde, katholiſch zu werden, ſo regte das ſeinen ganzen Unwillen auf, den er in einer Gegenſchrift ausſprach. Er ſtand zu tief im Weſen des Chriſtenthums, als daß er auf die aͤußere Form mehr Werth haͤtte legen ſollen, als ſie verdient. Iſt doch die freundliche Beur- theilung anderer Religionsmeinungen gewoͤhnlich das Zeichen aͤchter Religioſitaͤt.
Nur gegen Meinungen, die den weſentlichen Lehren des Chri- ſtenthums ſeiner Anſicht nach droheten, war er unerbittlich ſtrenge, wenn ſie oͤffentlich auftraten. Er entwarf ſich auch da manchmal ein allzugrelles Bild von einem Gegner, ſo daß er ungerecht wer- den konnte. Mehrmals hielt ich es daher fuͤr Pflicht, ihm dieſes zu bemerken, das ſtimmte ihn auch wohl zu milderen Geſinnun- gen; aber ich mußte auch dann die ſeinige hochachten, wenn wir verſchiedener Meinung blieben, denn die ſeinige hing mit dem heiligen Ernſt zuſammen, womit er fuͤr die Wahrheit ſtritt, wie ſie einmal bei ihm feſtſtand; und ich kannte auch ſeine Selbſt- verlaͤugnung, womit er ſeine eigne Meinung aufgab, ſobald er nur die Wahrheit wirklich auf der Seite des Andern ſah. Ge- meiniglich wirkten erſt ſpaͤterhin dergleichen Erinnerungen, nach- dem er alles in ſeinem feſt zuſammenhaͤngenden Syſteme damit verglichen hatte. Uebrigens war er jederzeit bereit, auch dem bitterſten Gegner als Menſch zu helfen, wo er nur konnte. In der perſoͤnlichen Unterhaltung wurde er leicht der Freund deſſen, den er aus der Ferne unguͤnſtig angeſehen hatte; alles dieſes aus demſelben Herzensgrunde. Von dem Religionslehrer verlangte er mit unerbittlicher Strenge, daß er das Evangelium verkuͤndige, und daß er ſelbſt daran glaube; das erſtere, weil er dazu beru- fen, das zweite, weil er ſonſt ein Heuchler ſey.
Jung-Stilling war keineswegs in Allem ſtreng orthodox, auch konnte er es recht gut ſehen, daß Andere in kirchlichen Lehren verſchieden dachten, wenn ſie nur evangeliſch waren, und es mit
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Kurz in der liberalen Geſinnung gegen andere Glaubensge-
noſſen konnte Stilling fuͤr manche orthodoxe, und ſelbſt fuͤr nicht
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ein Muſter ſeyn. Manche engſinnige Menſchen und Froͤmmlinge
waren deßhalb uͤbel genug auf ihn zu ſprechen. Als ihm vor
einigen Jahren das Anſinnen in einer Schrift gemacht wurde,
katholiſch zu werden, ſo regte das ſeinen ganzen Unwillen auf, den
er in einer Gegenſchrift ausſprach. Er ſtand zu tief im Weſen
des Chriſtenthums, als daß er auf die aͤußere Form mehr Werth
haͤtte legen ſollen, als ſie verdient. Iſt doch die freundliche Beur-
theilung anderer Religionsmeinungen gewoͤhnlich das Zeichen
aͤchter Religioſitaͤt.
Nur gegen Meinungen, die den weſentlichen Lehren des Chri-
ſtenthums ſeiner Anſicht nach droheten, war er unerbittlich ſtrenge,
wenn ſie oͤffentlich auftraten. Er entwarf ſich auch da manchmal
ein allzugrelles Bild von einem Gegner, ſo daß er ungerecht wer-
den konnte. Mehrmals hielt ich es daher fuͤr Pflicht, ihm dieſes
zu bemerken, das ſtimmte ihn auch wohl zu milderen Geſinnun-
gen; aber ich mußte auch dann die ſeinige hochachten, wenn
wir verſchiedener Meinung blieben, denn die ſeinige hing mit dem
heiligen Ernſt zuſammen, womit er fuͤr die Wahrheit ſtritt, wie
ſie einmal bei ihm feſtſtand; und ich kannte auch ſeine Selbſt-
verlaͤugnung, womit er ſeine eigne Meinung aufgab, ſobald er
nur die Wahrheit wirklich auf der Seite des Andern ſah. Ge-
meiniglich wirkten erſt ſpaͤterhin dergleichen Erinnerungen, nach-
dem er alles in ſeinem feſt zuſammenhaͤngenden Syſteme damit
verglichen hatte. Uebrigens war er jederzeit bereit, auch dem
bitterſten Gegner als Menſch zu helfen, wo er nur konnte. In
der perſoͤnlichen Unterhaltung wurde er leicht der Freund deſſen,
den er aus der Ferne unguͤnſtig angeſehen hatte; alles dieſes aus
demſelben Herzensgrunde. Von dem Religionslehrer verlangte
er mit unerbittlicher Strenge, daß er das Evangelium verkuͤndige,
und daß er ſelbſt daran glaube; das erſtere, weil er dazu beru-
fen, das zweite, weil er ſonſt ein Heuchler ſey.
Jung-Stilling war keineswegs in Allem ſtreng orthodox, auch
konnte er es recht gut ſehen, daß Andere in kirchlichen Lehren
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 658. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/666>, abgerufen am 21.11.2024.
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