wahre Selbstliebe sey. Weit davon entfernt, diesen Trieb, der viel Böses anrichten kann, zu verdrängen, so gibt er lau- ter Mittel an die Hand, denselben zu veredeln und zu verfei- nern. Er befiehlt, wir sollen das beweisen, was wir wün- schen, daß sie uns beweisen sollen; thun wir nun das, so sind wir ihrer Liebe gewiß, sie werden uns wohl thun und viel Vergnügen machen, wenn sie anders keine böse Menschen sind. Er befiehlt, wir sollen die Feinde lieben; sobald wir nun ei- nem Feinde Liebes und Gutes erzeigen, so wird er gewiß auf das äußerste gefoltert, bis er sich mit uns ausgesöhnt hat; wir selbsten aber genießen bei der Ausübung dieser Pflichten, die uns nur im Anfang ein wenig Mühe kosten, einen innern Frieden, der alle sinnlichen Vergnügen weit übertrifft. Ueber- das ist der Stolz eigentlich die Quelle aller unserer gesellschaft- lichen Laster, alles Unfriedens, Hasses und Störens der Ruhe. Wider die Wurzel alles Uebels ist nun kein besser Mittel, als obiges Gesetz Jesu Christi. Ich mag mich für jetzt nicht wei- ter darüber erklären; ich wollte Euch nur so viel sagen: daß es wohl der Mühe werth sey, Ernst anzuwenden, der Lehre Christi zu folgen, weil sie uns dauerhafte und wesentliche Vergnügen verschafft, die uns im Verlust anderer die Wage halten können.
"Sagt mir doch dieses alles vor, Freund Niclas! ich muß es aufschreiben, ich glaube, daß es wahr ist, was Ihr sagt."
Niclas wiederholte es von Herzen, und immer mit einem Bißchen mehr oder weniger, und Wilhelm schrieb es auf, so wie er's ihm vorsagte.
"Aber, fuhr er fort, wenn wir durch die Nachfolge der Lehre Christi selig werden, wofür ist dann sein Leben und Sterben? Die Prediger sagen ja, wir könnten die Gebote nicht halten, sondern wir würden nur durch den Glauben an Christum und durch sein Verdienst gerecht und selig."
Niclas lächelte und sagte: Davon läßt sich einst einmal weiter reden. Nehmt's nur eine Weile so, daß wie Er uns durch sein heiliges, reines Leben, da er in der Gnade vor Gott und den Menschen hinwandelte, eine freie Aussicht über unser Leben, über die verworrenen Erdhändel verschafft hat,
wahre Selbſtliebe ſey. Weit davon entfernt, dieſen Trieb, der viel Boͤſes anrichten kann, zu verdraͤngen, ſo gibt er lau- ter Mittel an die Hand, denſelben zu veredeln und zu verfei- nern. Er befiehlt, wir ſollen das beweiſen, was wir wuͤn- ſchen, daß ſie uns beweiſen ſollen; thun wir nun das, ſo ſind wir ihrer Liebe gewiß, ſie werden uns wohl thun und viel Vergnuͤgen machen, wenn ſie anders keine boͤſe Menſchen ſind. Er befiehlt, wir ſollen die Feinde lieben; ſobald wir nun ei- nem Feinde Liebes und Gutes erzeigen, ſo wird er gewiß auf das aͤußerſte gefoltert, bis er ſich mit uns ausgeſoͤhnt hat; wir ſelbſten aber genießen bei der Ausuͤbung dieſer Pflichten, die uns nur im Anfang ein wenig Muͤhe koſten, einen innern Frieden, der alle ſinnlichen Vergnuͤgen weit uͤbertrifft. Ueber- das iſt der Stolz eigentlich die Quelle aller unſerer geſellſchaft- lichen Laſter, alles Unfriedens, Haſſes und Stoͤrens der Ruhe. Wider die Wurzel alles Uebels iſt nun kein beſſer Mittel, als obiges Geſetz Jeſu Chriſti. Ich mag mich fuͤr jetzt nicht wei- ter daruͤber erklaͤren; ich wollte Euch nur ſo viel ſagen: daß es wohl der Muͤhe werth ſey, Ernſt anzuwenden, der Lehre Chriſti zu folgen, weil ſie uns dauerhafte und weſentliche Vergnuͤgen verſchafft, die uns im Verluſt anderer die Wage halten koͤnnen.
„Sagt mir doch dieſes alles vor, Freund Niclas! ich muß es aufſchreiben, ich glaube, daß es wahr iſt, was Ihr ſagt.“
Niclas wiederholte es von Herzen, und immer mit einem Bißchen mehr oder weniger, und Wilhelm ſchrieb es auf, ſo wie er’s ihm vorſagte.
„Aber, fuhr er fort, wenn wir durch die Nachfolge der Lehre Chriſti ſelig werden, wofuͤr iſt dann ſein Leben und Sterben? Die Prediger ſagen ja, wir koͤnnten die Gebote nicht halten, ſondern wir wuͤrden nur durch den Glauben an Chriſtum und durch ſein Verdienſt gerecht und ſelig.“
Niclas laͤchelte und ſagte: Davon laͤßt ſich einſt einmal weiter reden. Nehmt’s nur eine Weile ſo, daß wie Er uns durch ſein heiliges, reines Leben, da er in der Gnade vor Gott und den Menſchen hinwandelte, eine freie Ausſicht uͤber unſer Leben, uͤber die verworrenen Erdhaͤndel verſchafft hat,
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wahre Selbſtliebe ſey. Weit davon entfernt, dieſen Trieb,
der viel Boͤſes anrichten kann, zu verdraͤngen, ſo gibt er lau-
ter Mittel an die Hand, denſelben zu veredeln und zu verfei-
nern. Er befiehlt, wir ſollen das beweiſen, was wir wuͤn-
ſchen, daß ſie uns beweiſen ſollen; thun wir nun das, ſo ſind
wir ihrer Liebe gewiß, ſie werden uns wohl thun und viel
Vergnuͤgen machen, wenn ſie anders keine boͤſe Menſchen ſind.
Er befiehlt, wir ſollen die Feinde lieben; ſobald wir nun ei-
nem Feinde Liebes und Gutes erzeigen, ſo wird er gewiß auf
das aͤußerſte gefoltert, bis er ſich mit uns ausgeſoͤhnt hat;
wir ſelbſten aber genießen bei der Ausuͤbung dieſer Pflichten,
die uns nur im Anfang ein wenig Muͤhe koſten, einen innern
Frieden, der alle ſinnlichen Vergnuͤgen weit uͤbertrifft. Ueber-
das iſt der Stolz eigentlich die Quelle aller unſerer geſellſchaft-
lichen Laſter, alles Unfriedens, Haſſes und Stoͤrens der Ruhe.
Wider die Wurzel alles Uebels iſt nun kein beſſer Mittel, als
obiges Geſetz Jeſu Chriſti. Ich mag mich fuͤr jetzt nicht wei-
ter daruͤber erklaͤren; ich wollte Euch nur ſo viel ſagen: daß
es wohl der Muͤhe werth ſey, Ernſt anzuwenden, der Lehre
Chriſti zu folgen, weil ſie uns dauerhafte und weſentliche
Vergnuͤgen verſchafft, die uns im Verluſt anderer die Wage
halten koͤnnen.
„Sagt mir doch dieſes alles vor, Freund Niclas! ich muß
es aufſchreiben, ich glaube, daß es wahr iſt, was Ihr ſagt.“
Niclas wiederholte es von Herzen, und immer mit einem
Bißchen mehr oder weniger, und Wilhelm ſchrieb es auf,
ſo wie er’s ihm vorſagte.
„Aber, fuhr er fort, wenn wir durch die Nachfolge der Lehre
Chriſti ſelig werden, wofuͤr iſt dann ſein Leben und Sterben?
Die Prediger ſagen ja, wir koͤnnten die Gebote nicht halten,
ſondern wir wuͤrden nur durch den Glauben an Chriſtum und
durch ſein Verdienſt gerecht und ſelig.“
Niclas laͤchelte und ſagte: Davon laͤßt ſich einſt einmal
weiter reden. Nehmt’s nur eine Weile ſo, daß wie Er uns
durch ſein heiliges, reines Leben, da er in der Gnade vor
Gott und den Menſchen hinwandelte, eine freie Ausſicht uͤber
unſer Leben, uͤber die verworrenen Erdhaͤndel verſchafft hat,
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/72>, abgerufen am 26.11.2024.
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