"Nicht zu wohl! das Herz ist noch so wund, daß es blutet, doch fange ich an, mehreren Trost zu finden."
So geht's, Meister Stilling, wenn man mit seinen Be- gierden sich zu sehr an etwas Vergängliches anfesselt. Und wir sind gewiß glücklicher, wenn wir Weiber haben, als hätten wir keine, 1 Cor. 7, 29. Wir könnten sie von Herzen lieben; allein wie nützlich ist es doch auch, wenn man sich übet, auch diesem Vergnügen abzusterben und es zu ver- läugnen; gewiß wird uns dann der Verlust nicht so schwer fallen.
"Das läßt sich recht gut predigen, aber thun, thun, leisten, halten, das ist eine andere Sache!"
Niclas lächelte und sagte: Freilich ist es schwer, beson- ders wenn man ein solches Dortchen gehabt hat; doch aber, wenn's nur Jemand ein Ernst ist, ja, wenn nur Jemand glaubt, daß die Lehre Jesu Christi zur höchsten Glückseligkeit führet, so wird's einem Ernst. Alsdann ist es wirklich so schwer nicht, als man sich's vorstellt. Laßt mich Euch die ganze Sache kürzlich erklären. Jesus Christus hat uns eine Lehre hinter- lassen, die der Natur der menschlichen Seele so angemessen ist, daß sie, wann sie nur befolgt wird, nothwendig vollkommen glücklich machen muß. Wenn wir alle Lehren aller Welt- weisen durchgehen, so finden wir eine Menge Regeln, die so zusammenhangen, wie sie sich ihr Lehrgebäude geformt hatten. Bald hinken sie, bald laufen sie, und dann stehen sie still; nur die Lehre Christi, aus den tiefsten Geheimnissen der mensch- lichen Natur herausgezogen, fehlet nie, und beweiset dem, der es recht einsieht, vollkommen, daß ihr Verfasser den Men- schen selber müsse gemacht haben, indem er ihn bis auf den ersten Grundtrieb kannte. Der Mensch hat einen unendlichen Hunger nach Vergnügen, -- nach Vergnügen, die im Stande sind, ihn zu sättigen, die immer was Neues ausliefern, die eine unaufhörliche Quelle neuer Vergnügen sind. In der gan- zen Schöpfung aber finden wir keine von solcher Art. So- bald wir ihrer durch den Wechsel der Dinge verlustig werden, so lassen sie eine Qual zurück, wie Ihr zum Exempel bei eurem Dortchen gewahr worden. Dieser göttliche Gesetzgeber wußte, daß der Grund aller menschlichen Handlungen die
„Nicht zu wohl! das Herz iſt noch ſo wund, daß es blutet, doch fange ich an, mehreren Troſt zu finden.“
So geht’s, Meiſter Stilling, wenn man mit ſeinen Be- gierden ſich zu ſehr an etwas Vergaͤngliches anfeſſelt. Und wir ſind gewiß gluͤcklicher, wenn wir Weiber haben, als haͤtten wir keine, 1 Cor. 7, 29. Wir koͤnnten ſie von Herzen lieben; allein wie nuͤtzlich iſt es doch auch, wenn man ſich uͤbet, auch dieſem Vergnuͤgen abzuſterben und es zu ver- laͤugnen; gewiß wird uns dann der Verluſt nicht ſo ſchwer fallen.
„Das laͤßt ſich recht gut predigen, aber thun, thun, leiſten, halten, das iſt eine andere Sache!“
Niclas laͤchelte und ſagte: Freilich iſt es ſchwer, beſon- ders wenn man ein ſolches Dortchen gehabt hat; doch aber, wenn’s nur Jemand ein Ernſt iſt, ja, wenn nur Jemand glaubt, daß die Lehre Jeſu Chriſti zur hoͤchſten Gluͤckſeligkeit fuͤhret, ſo wird’s einem Ernſt. Alsdann iſt es wirklich ſo ſchwer nicht, als man ſich’s vorſtellt. Laßt mich Euch die ganze Sache kuͤrzlich erklaͤren. Jeſus Chriſtus hat uns eine Lehre hinter- laſſen, die der Natur der menſchlichen Seele ſo angemeſſen iſt, daß ſie, wann ſie nur befolgt wird, nothwendig vollkommen gluͤcklich machen muß. Wenn wir alle Lehren aller Welt- weiſen durchgehen, ſo finden wir eine Menge Regeln, die ſo zuſammenhangen, wie ſie ſich ihr Lehrgebaͤude geformt hatten. Bald hinken ſie, bald laufen ſie, und dann ſtehen ſie ſtill; nur die Lehre Chriſti, aus den tiefſten Geheimniſſen der menſch- lichen Natur herausgezogen, fehlet nie, und beweiſet dem, der es recht einſieht, vollkommen, daß ihr Verfaſſer den Men- ſchen ſelber muͤſſe gemacht haben, indem er ihn bis auf den erſten Grundtrieb kannte. Der Menſch hat einen unendlichen Hunger nach Vergnuͤgen, — nach Vergnuͤgen, die im Stande ſind, ihn zu ſaͤttigen, die immer was Neues ausliefern, die eine unaufhoͤrliche Quelle neuer Vergnuͤgen ſind. In der gan- zen Schoͤpfung aber finden wir keine von ſolcher Art. So- bald wir ihrer durch den Wechſel der Dinge verluſtig werden, ſo laſſen ſie eine Qual zuruͤck, wie Ihr zum Exempel bei eurem Dortchen gewahr worden. Dieſer goͤttliche Geſetzgeber wußte, daß der Grund aller menſchlichen Handlungen die
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0071"n="63"/><p>„Nicht zu wohl! das Herz iſt noch ſo wund, daß es blutet,<lb/>
doch fange ich an, mehreren Troſt zu finden.“</p><lb/><p>So geht’s, Meiſter <hirendition="#g">Stilling</hi>, wenn man mit ſeinen Be-<lb/>
gierden ſich zu ſehr an etwas Vergaͤngliches anfeſſelt. Und<lb/>
wir ſind gewiß gluͤcklicher, <hirendition="#g">wenn wir Weiber haben, als<lb/>
haͤtten wir keine</hi>, 1 Cor. 7, 29. Wir koͤnnten ſie von<lb/>
Herzen lieben; allein wie nuͤtzlich iſt es doch auch, wenn man<lb/>ſich uͤbet, auch dieſem Vergnuͤgen abzuſterben und es zu ver-<lb/>
laͤugnen; gewiß wird uns dann der Verluſt nicht ſo ſchwer fallen.</p><lb/><p>„Das laͤßt ſich recht gut predigen, aber thun, thun, leiſten,<lb/>
halten, das iſt eine andere Sache!“</p><lb/><p><hirendition="#g">Niclas</hi> laͤchelte und ſagte: Freilich iſt es ſchwer, beſon-<lb/>
ders wenn man ein ſolches <hirendition="#g">Dortchen</hi> gehabt hat; doch aber,<lb/>
wenn’s nur Jemand ein Ernſt iſt, ja, wenn nur Jemand glaubt,<lb/>
daß die Lehre Jeſu Chriſti zur hoͤchſten Gluͤckſeligkeit fuͤhret,<lb/>ſo wird’s einem Ernſt. Alsdann iſt es wirklich ſo ſchwer nicht,<lb/>
als man ſich’s vorſtellt. Laßt mich Euch die ganze Sache<lb/>
kuͤrzlich erklaͤren. Jeſus Chriſtus hat uns eine Lehre hinter-<lb/>
laſſen, die der Natur der menſchlichen Seele ſo angemeſſen iſt,<lb/>
daß ſie, wann ſie nur befolgt wird, nothwendig vollkommen<lb/>
gluͤcklich machen muß. Wenn wir alle Lehren <hirendition="#g">aller</hi> Welt-<lb/>
weiſen durchgehen, ſo finden wir eine Menge Regeln, die ſo<lb/>
zuſammenhangen, wie ſie ſich ihr Lehrgebaͤude geformt hatten.<lb/>
Bald hinken ſie, bald laufen ſie, und dann ſtehen ſie ſtill;<lb/>
nur die Lehre Chriſti, aus den tiefſten Geheimniſſen der menſch-<lb/>
lichen Natur herausgezogen, fehlet nie, und beweiſet <hirendition="#g">dem</hi>,<lb/>
der es recht einſieht, vollkommen, daß ihr Verfaſſer den Men-<lb/>ſchen ſelber muͤſſe gemacht haben, indem er ihn bis auf den<lb/>
erſten Grundtrieb kannte. Der Menſch hat einen unendlichen<lb/>
Hunger nach Vergnuͤgen, — nach Vergnuͤgen, die im Stande<lb/>ſind, ihn zu ſaͤttigen, die immer was Neues ausliefern, die<lb/>
eine unaufhoͤrliche Quelle neuer Vergnuͤgen ſind. In der gan-<lb/>
zen Schoͤpfung aber finden wir <hirendition="#g">keine</hi> von ſolcher Art. So-<lb/>
bald wir ihrer durch den Wechſel der Dinge verluſtig werden,<lb/>ſo laſſen ſie eine Qual zuruͤck, wie Ihr zum Exempel bei eurem<lb/><hirendition="#g">Dortchen</hi> gewahr worden. Dieſer goͤttliche Geſetzgeber<lb/>
wußte, daß der Grund aller menſchlichen Handlungen die<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[63/0071]
„Nicht zu wohl! das Herz iſt noch ſo wund, daß es blutet,
doch fange ich an, mehreren Troſt zu finden.“
So geht’s, Meiſter Stilling, wenn man mit ſeinen Be-
gierden ſich zu ſehr an etwas Vergaͤngliches anfeſſelt. Und
wir ſind gewiß gluͤcklicher, wenn wir Weiber haben, als
haͤtten wir keine, 1 Cor. 7, 29. Wir koͤnnten ſie von
Herzen lieben; allein wie nuͤtzlich iſt es doch auch, wenn man
ſich uͤbet, auch dieſem Vergnuͤgen abzuſterben und es zu ver-
laͤugnen; gewiß wird uns dann der Verluſt nicht ſo ſchwer fallen.
„Das laͤßt ſich recht gut predigen, aber thun, thun, leiſten,
halten, das iſt eine andere Sache!“
Niclas laͤchelte und ſagte: Freilich iſt es ſchwer, beſon-
ders wenn man ein ſolches Dortchen gehabt hat; doch aber,
wenn’s nur Jemand ein Ernſt iſt, ja, wenn nur Jemand glaubt,
daß die Lehre Jeſu Chriſti zur hoͤchſten Gluͤckſeligkeit fuͤhret,
ſo wird’s einem Ernſt. Alsdann iſt es wirklich ſo ſchwer nicht,
als man ſich’s vorſtellt. Laßt mich Euch die ganze Sache
kuͤrzlich erklaͤren. Jeſus Chriſtus hat uns eine Lehre hinter-
laſſen, die der Natur der menſchlichen Seele ſo angemeſſen iſt,
daß ſie, wann ſie nur befolgt wird, nothwendig vollkommen
gluͤcklich machen muß. Wenn wir alle Lehren aller Welt-
weiſen durchgehen, ſo finden wir eine Menge Regeln, die ſo
zuſammenhangen, wie ſie ſich ihr Lehrgebaͤude geformt hatten.
Bald hinken ſie, bald laufen ſie, und dann ſtehen ſie ſtill;
nur die Lehre Chriſti, aus den tiefſten Geheimniſſen der menſch-
lichen Natur herausgezogen, fehlet nie, und beweiſet dem,
der es recht einſieht, vollkommen, daß ihr Verfaſſer den Men-
ſchen ſelber muͤſſe gemacht haben, indem er ihn bis auf den
erſten Grundtrieb kannte. Der Menſch hat einen unendlichen
Hunger nach Vergnuͤgen, — nach Vergnuͤgen, die im Stande
ſind, ihn zu ſaͤttigen, die immer was Neues ausliefern, die
eine unaufhoͤrliche Quelle neuer Vergnuͤgen ſind. In der gan-
zen Schoͤpfung aber finden wir keine von ſolcher Art. So-
bald wir ihrer durch den Wechſel der Dinge verluſtig werden,
ſo laſſen ſie eine Qual zuruͤck, wie Ihr zum Exempel bei eurem
Dortchen gewahr worden. Dieſer goͤttliche Geſetzgeber
wußte, daß der Grund aller menſchlichen Handlungen die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/71>, abgerufen am 26.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.