ler, wann er sie eben begehen will, und unter- richte ihn warum; hast du es aber vorhin verbo- ten, so vergißt der Knabe die vielen Gebote und Verbote, fehlt immer, du aber mußt dein Wort handhaben, und so gibts immer Schläge. Wil- helm erkannte dieses, und ließ vor und nach die mehresten Regeln in Vergessenheit kommen; er regierte nun nicht mehr so sehr nach Gesetzen, sondern ganz monarchisch; er gab seinen Befehl immer, wenn's nöthig war, richtete ihn nach den Um- ständen ein, und nun wurde der Knabe nicht mehr so viel ge- züchtigt, seine ganze Lebensart wurde in etwas aufgeweckter, freier und edler.
Heinrich Stilling wurde also ungewöhnlich erzogen, ganz ohne Umgang mit andern Menschen; er wußte daher nichts von der Welt, nichts von Lastern, er kannte gar keine Falschheit und Ausgelassenheit; beten, lesen und schreiben war seine Beschäftigung; sein Gemüth war also mit wenigen Din- gen angefüllt: aber alles, was darin war, war so lebhaft, so deutlich, so verfeinert und veredelt, daß seine Ausdrücke, Reden und Handlungen sich nicht beschreiben lassen. Die ganze Familie erstaunte über den Knaben, und der alte Stil- ling sagte oft: der Junge entfleugtuns, die Fe- dern wachsen ihm größer, als je Einer in unserer Freundschaft gewesen; wir müssen beten, daß ihn Gott mit seinem guten Geist regieren wolle. Alle Nachbarn, die wohl in Stillings Hause kamen, und den Knaben sahen, verwunderten sich; denn sie verstanden nichts von allem, was er sagte, ob er gleich gut deutsch redete. Unter andern kam einmal Nachbar Stähler hin, weilen er von Wilhelm ein Camisol gemacht haben wollte; doch war wohl seine Hauptabsicht dabei, unter der Hand sein Marie- chen zu versorgen; denn Stilling war im Dorf angesehen, und Wilhelm war fromm und fleißig. Der junge Hein- rich mochte acht Jahr alt seyn; er saß in einem Stuhl und las in einem Buch, sah seiner Gewohnheit nach ganz ernst- haft, und ich glaube nicht, daß er zu der Zeit noch in seinem
ler, wann er ſie eben begehen will, und unter- richte ihn warum; haſt du es aber vorhin verbo- ten, ſo vergißt der Knabe die vielen Gebote und Verbote, fehlt immer, du aber mußt dein Wort handhaben, und ſo gibts immer Schlaͤge. Wil- helm erkannte dieſes, und ließ vor und nach die mehreſten Regeln in Vergeſſenheit kommen; er regierte nun nicht mehr ſo ſehr nach Geſetzen, ſondern ganz monarchiſch; er gab ſeinen Befehl immer, wenn’s noͤthig war, richtete ihn nach den Um- ſtaͤnden ein, und nun wurde der Knabe nicht mehr ſo viel ge- zuͤchtigt, ſeine ganze Lebensart wurde in etwas aufgeweckter, freier und edler.
Heinrich Stilling wurde alſo ungewoͤhnlich erzogen, ganz ohne Umgang mit andern Menſchen; er wußte daher nichts von der Welt, nichts von Laſtern, er kannte gar keine Falſchheit und Ausgelaſſenheit; beten, leſen und ſchreiben war ſeine Beſchaͤftigung; ſein Gemuͤth war alſo mit wenigen Din- gen angefuͤllt: aber alles, was darin war, war ſo lebhaft, ſo deutlich, ſo verfeinert und veredelt, daß ſeine Ausdruͤcke, Reden und Handlungen ſich nicht beſchreiben laſſen. Die ganze Familie erſtaunte uͤber den Knaben, und der alte Stil- ling ſagte oft: der Junge entfleugtuns, die Fe- dern wachſen ihm groͤßer, als je Einer in unſerer Freundſchaft geweſen; wir muͤſſen beten, daß ihn Gott mit ſeinem guten Geiſt regieren wolle. Alle Nachbarn, die wohl in Stillings Hauſe kamen, und den Knaben ſahen, verwunderten ſich; denn ſie verſtanden nichts von allem, was er ſagte, ob er gleich gut deutſch redete. Unter andern kam einmal Nachbar Staͤhler hin, weilen er von Wilhelm ein Camiſol gemacht haben wollte; doch war wohl ſeine Hauptabſicht dabei, unter der Hand ſein Marie- chen zu verſorgen; denn Stilling war im Dorf angeſehen, und Wilhelm war fromm und fleißig. Der junge Hein- rich mochte acht Jahr alt ſeyn; er ſaß in einem Stuhl und las in einem Buch, ſah ſeiner Gewohnheit nach ganz ernſt- haft, und ich glaube nicht, daß er zu der Zeit noch in ſeinem
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ler, wann er ſie eben begehen will, und unter-
richte ihn warum; haſt du es aber vorhin verbo-
ten, ſo vergißt der Knabe die vielen Gebote und
Verbote, fehlt immer, du aber mußt dein Wort
handhaben, und ſo gibts immer Schlaͤge. Wil-
helm erkannte dieſes, und ließ vor und nach die mehreſten
Regeln in Vergeſſenheit kommen; er regierte nun nicht mehr
ſo ſehr nach Geſetzen, ſondern ganz monarchiſch; er gab ſeinen
Befehl immer, wenn’s noͤthig war, richtete ihn nach den Um-
ſtaͤnden ein, und nun wurde der Knabe nicht mehr ſo viel ge-
zuͤchtigt, ſeine ganze Lebensart wurde in etwas aufgeweckter,
freier und edler.
Heinrich Stilling wurde alſo ungewoͤhnlich erzogen,
ganz ohne Umgang mit andern Menſchen; er wußte daher
nichts von der Welt, nichts von Laſtern, er kannte gar keine
Falſchheit und Ausgelaſſenheit; beten, leſen und ſchreiben war
ſeine Beſchaͤftigung; ſein Gemuͤth war alſo mit wenigen Din-
gen angefuͤllt: aber alles, was darin war, war ſo lebhaft,
ſo deutlich, ſo verfeinert und veredelt, daß ſeine Ausdruͤcke,
Reden und Handlungen ſich nicht beſchreiben laſſen. Die
ganze Familie erſtaunte uͤber den Knaben, und der alte Stil-
ling ſagte oft: der Junge entfleugtuns, die Fe-
dern wachſen ihm groͤßer, als je Einer in unſerer
Freundſchaft geweſen; wir muͤſſen beten, daß
ihn Gott mit ſeinem guten Geiſt regieren wolle.
Alle Nachbarn, die wohl in Stillings Hauſe kamen, und
den Knaben ſahen, verwunderten ſich; denn ſie verſtanden
nichts von allem, was er ſagte, ob er gleich gut deutſch redete.
Unter andern kam einmal Nachbar Staͤhler hin, weilen er
von Wilhelm ein Camiſol gemacht haben wollte; doch war
wohl ſeine Hauptabſicht dabei, unter der Hand ſein Marie-
chen zu verſorgen; denn Stilling war im Dorf angeſehen,
und Wilhelm war fromm und fleißig. Der junge Hein-
rich mochte acht Jahr alt ſeyn; er ſaß in einem Stuhl und
las in einem Buch, ſah ſeiner Gewohnheit nach ganz ernſt-
haft, und ich glaube nicht, daß er zu der Zeit noch in ſeinem
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/77>, abgerufen am 26.11.2024.
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