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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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Leben stark gelacht hatte. Stähler sah ihn an und sagte:
Heinrich, was machst du da?

"Ich lese."

Kannst du denn schon lesen?

Heinrich sah ihn an, verwunderte sich und sprach: das
ist ja eine dumme Frage, ich bin ja ein Mensch! -- Nun
las er stark, mit Leichtigkeit, gehörigem Nachdruck und Unter-
scheidung. Stähler entsetzte sich und sagte: Hol' mich der
T..! so was hab' ich mein Lebtag nicht gesehen. Bei diesem
Fluch sprang Heinrich auf, zitterte und sah schüchtern um
sich; wie er endlich sah, daß der Teufel ausblieb, rief er:
Gott, wie gnädig bist du! -- trat darauf vor Stählern
und sagte: Mann! habt ihr den Satan gesehen? Nein, ant-
wortete Stähler. So ruft ihn nicht mehr, versetzte Hein-
rich
, und ging in eine andere Kammer.

Das Gerücht von diesem Knaben erscholl weit umher; alle
Menschen redeten von ihm und verwunderten sich. Selbst der
Pastor Stollbein wurde neugierig, ihn zu sehen. Nun
war Heinrich noch nie in der Kirche gewesen, hatte daher
auch noch nie einen Mann mit einer großen, weißen Perücke
und feinem schwarzen Kleide gesehen. Der Pastor kam nach
Tiefenbach hin, und weil er vielleicht ehe in ein anderes Haus
gegangen war, so wurde seine Ankunft in Stillings Hause
vorher ruchbar, wie auch, warum er gekommen war. Wil-
helm
unterrichtete seinen Heinrichen also, wie er sich be-
tragen müßte, wenn der Pastor käme. Er kam dann endlich,
und mit ihm der alte Stilling. Heinrich stand an der
Wand gerade auf, wie ein Soldat, der das Gewehr präsentirt;
in seinen gefaltenen Händen hielt er seine aus blauen und grauen
tuchenen Lappen zusammengesetzte Mütze, und sah dem Pastor
immer starr in die Augen. Nachdem sich Herr Stollbein
gesetzt, und ein und ander Wort mit Wilhelmen geredet
hatte, drehte er sich gegen die Wand, und sagte: Guten Mor-
gen, Heinrich! --

"Man sagt guten Morgen, sobald man in die Stube
kommt."

Stollbein merkte, mit wem er's zu thun hatte, daher

Leben ſtark gelacht hatte. Staͤhler ſah ihn an und ſagte:
Heinrich, was machſt du da?

„Ich leſe.“

Kannſt du denn ſchon leſen?

Heinrich ſah ihn an, verwunderte ſich und ſprach: das
iſt ja eine dumme Frage, ich bin ja ein Menſch! — Nun
las er ſtark, mit Leichtigkeit, gehoͤrigem Nachdruck und Unter-
ſcheidung. Staͤhler entſetzte ſich und ſagte: Hol’ mich der
T..! ſo was hab’ ich mein Lebtag nicht geſehen. Bei dieſem
Fluch ſprang Heinrich auf, zitterte und ſah ſchuͤchtern um
ſich; wie er endlich ſah, daß der Teufel ausblieb, rief er:
Gott, wie gnaͤdig biſt du! — trat darauf vor Staͤhlern
und ſagte: Mann! habt ihr den Satan geſehen? Nein, ant-
wortete Staͤhler. So ruft ihn nicht mehr, verſetzte Hein-
rich
, und ging in eine andere Kammer.

Das Geruͤcht von dieſem Knaben erſcholl weit umher; alle
Menſchen redeten von ihm und verwunderten ſich. Selbſt der
Paſtor Stollbein wurde neugierig, ihn zu ſehen. Nun
war Heinrich noch nie in der Kirche geweſen, hatte daher
auch noch nie einen Mann mit einer großen, weißen Peruͤcke
und feinem ſchwarzen Kleide geſehen. Der Paſtor kam nach
Tiefenbach hin, und weil er vielleicht ehe in ein anderes Haus
gegangen war, ſo wurde ſeine Ankunft in Stillings Hauſe
vorher ruchbar, wie auch, warum er gekommen war. Wil-
helm
unterrichtete ſeinen Heinrichen alſo, wie er ſich be-
tragen muͤßte, wenn der Paſtor kaͤme. Er kam dann endlich,
und mit ihm der alte Stilling. Heinrich ſtand an der
Wand gerade auf, wie ein Soldat, der das Gewehr praͤſentirt;
in ſeinen gefaltenen Haͤnden hielt er ſeine aus blauen und grauen
tuchenen Lappen zuſammengeſetzte Muͤtze, und ſah dem Paſtor
immer ſtarr in die Augen. Nachdem ſich Herr Stollbein
geſetzt, und ein und ander Wort mit Wilhelmen geredet
hatte, drehte er ſich gegen die Wand, und ſagte: Guten Mor-
gen, Heinrich! —

„Man ſagt guten Morgen, ſobald man in die Stube
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[70/0078] Leben ſtark gelacht hatte. Staͤhler ſah ihn an und ſagte: Heinrich, was machſt du da? „Ich leſe.“ Kannſt du denn ſchon leſen? Heinrich ſah ihn an, verwunderte ſich und ſprach: das iſt ja eine dumme Frage, ich bin ja ein Menſch! — Nun las er ſtark, mit Leichtigkeit, gehoͤrigem Nachdruck und Unter- ſcheidung. Staͤhler entſetzte ſich und ſagte: Hol’ mich der T..! ſo was hab’ ich mein Lebtag nicht geſehen. Bei dieſem Fluch ſprang Heinrich auf, zitterte und ſah ſchuͤchtern um ſich; wie er endlich ſah, daß der Teufel ausblieb, rief er: Gott, wie gnaͤdig biſt du! — trat darauf vor Staͤhlern und ſagte: Mann! habt ihr den Satan geſehen? Nein, ant- wortete Staͤhler. So ruft ihn nicht mehr, verſetzte Hein- rich, und ging in eine andere Kammer. Das Geruͤcht von dieſem Knaben erſcholl weit umher; alle Menſchen redeten von ihm und verwunderten ſich. Selbſt der Paſtor Stollbein wurde neugierig, ihn zu ſehen. Nun war Heinrich noch nie in der Kirche geweſen, hatte daher auch noch nie einen Mann mit einer großen, weißen Peruͤcke und feinem ſchwarzen Kleide geſehen. Der Paſtor kam nach Tiefenbach hin, und weil er vielleicht ehe in ein anderes Haus gegangen war, ſo wurde ſeine Ankunft in Stillings Hauſe vorher ruchbar, wie auch, warum er gekommen war. Wil- helm unterrichtete ſeinen Heinrichen alſo, wie er ſich be- tragen muͤßte, wenn der Paſtor kaͤme. Er kam dann endlich, und mit ihm der alte Stilling. Heinrich ſtand an der Wand gerade auf, wie ein Soldat, der das Gewehr praͤſentirt; in ſeinen gefaltenen Haͤnden hielt er ſeine aus blauen und grauen tuchenen Lappen zuſammengeſetzte Muͤtze, und ſah dem Paſtor immer ſtarr in die Augen. Nachdem ſich Herr Stollbein geſetzt, und ein und ander Wort mit Wilhelmen geredet hatte, drehte er ſich gegen die Wand, und ſagte: Guten Mor- gen, Heinrich! — „Man ſagt guten Morgen, ſobald man in die Stube kommt.“ Stollbein merkte, mit wem er’s zu thun hatte, daher

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/78>, abgerufen am 26.11.2024.