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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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drehte er sich mit seinem Stuhl neben ihn und fuhr fort: Kannst
du auch den Catechismus?

"Noch nicht all."

Wie, noch nicht all? das ist ja das erste, was die Kinder
lernen müssen.

"Nein, Pastor, das ist nicht das erste; Kinder müssen erst
beten lernen, daß ihnen Gott Verstand geben möge, den Ca-
techismus zu begreifen."

Herr Stollbein war schon im Ernst ärgerlich, und eine
scharfe Strafpredigt an Wilhelmen war schon ausstudirt;
doch diese Antwort machte ihn stutzig. Wie betest du denn?
fragte er ferner.

"Ich bete: Lieber Gott! gib mir doch Verstand, daß ich
begreifen kann, was ich lese."

Das ist recht, mein Sohn, so bete fort!

"Ihr seyd nicht mein Vater."

Ich bin dein geistlicher Vater.

"Nein, Gott ist mein geistlicher Vater; ihr seyd ein Mensch,
ein Mensch kann kein Geist seyn."

Wie, hast du denn keinen Geist, keine Seele?

"Ja freilich! wie könnt Ihr so einfältig fragen? Aber ich
kenne meinen Vater."

Kennst du denn auch Gott, deinen geistlichen Vater?

Heinrich lächelte. "Sollte ein Mensch Gott nicht kennen?"

Du kannst ihn ja doch nicht sehen.

Heinrich schwieg, und holte seine wohlgebrauchte Bibel,
und wies dem Pastor den Spruch Röm. 1, V. 19 und 20.

Nun hatte Stollbein genug. Er hieß den Knaben hinaus
gehen, und sagte zu dem Vater: Euer Kind wird alle seine
Voreltern übertreffen; fahret fort, ihn wohl unter der Ruthe
zu halten; der Junge wird ein großer Mann in der Welt.

Wilhelm hatte noch immer seine Wunde über Dortchens
Tod; er seufzte noch beständig um sie. Nunmehr nahm er
auch zuweilen seinen Knaben mit nach dem alten Schloß, zeigte
ihm seiner verklärten Mutter Tritte und Schritte, alles, was
sie hier und da geredet und gethan hatte. Heinrich verliebte
sich so in seine Mutter, daß er alles, was er von ihr

drehte er ſich mit ſeinem Stuhl neben ihn und fuhr fort: Kannſt
du auch den Catechismus?

„Noch nicht all.“

Wie, noch nicht all? das iſt ja das erſte, was die Kinder
lernen muͤſſen.

„Nein, Paſtor, das iſt nicht das erſte; Kinder muͤſſen erſt
beten lernen, daß ihnen Gott Verſtand geben moͤge, den Ca-
techismus zu begreifen.“

Herr Stollbein war ſchon im Ernſt aͤrgerlich, und eine
ſcharfe Strafpredigt an Wilhelmen war ſchon ausſtudirt;
doch dieſe Antwort machte ihn ſtutzig. Wie beteſt du denn?
fragte er ferner.

„Ich bete: Lieber Gott! gib mir doch Verſtand, daß ich
begreifen kann, was ich leſe.“

Das iſt recht, mein Sohn, ſo bete fort!

„Ihr ſeyd nicht mein Vater.“

Ich bin dein geiſtlicher Vater.

„Nein, Gott iſt mein geiſtlicher Vater; ihr ſeyd ein Menſch,
ein Menſch kann kein Geiſt ſeyn.“

Wie, haſt du denn keinen Geiſt, keine Seele?

„Ja freilich! wie koͤnnt Ihr ſo einfaͤltig fragen? Aber ich
kenne meinen Vater.“

Kennſt du denn auch Gott, deinen geiſtlichen Vater?

Heinrich laͤchelte. „Sollte ein Menſch Gott nicht kennen?“

Du kannſt ihn ja doch nicht ſehen.

Heinrich ſchwieg, und holte ſeine wohlgebrauchte Bibel,
und wies dem Paſtor den Spruch Roͤm. 1, V. 19 und 20.

Nun hatte Stollbein genug. Er hieß den Knaben hinaus
gehen, und ſagte zu dem Vater: Euer Kind wird alle ſeine
Voreltern uͤbertreffen; fahret fort, ihn wohl unter der Ruthe
zu halten; der Junge wird ein großer Mann in der Welt.

Wilhelm hatte noch immer ſeine Wunde uͤber Dortchens
Tod; er ſeufzte noch beſtaͤndig um ſie. Nunmehr nahm er
auch zuweilen ſeinen Knaben mit nach dem alten Schloß, zeigte
ihm ſeiner verklaͤrten Mutter Tritte und Schritte, alles, was
ſie hier und da geredet und gethan hatte. Heinrich verliebte
ſich ſo in ſeine Mutter, daß er alles, was er von ihr

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[71/0079] drehte er ſich mit ſeinem Stuhl neben ihn und fuhr fort: Kannſt du auch den Catechismus? „Noch nicht all.“ Wie, noch nicht all? das iſt ja das erſte, was die Kinder lernen muͤſſen. „Nein, Paſtor, das iſt nicht das erſte; Kinder muͤſſen erſt beten lernen, daß ihnen Gott Verſtand geben moͤge, den Ca- techismus zu begreifen.“ Herr Stollbein war ſchon im Ernſt aͤrgerlich, und eine ſcharfe Strafpredigt an Wilhelmen war ſchon ausſtudirt; doch dieſe Antwort machte ihn ſtutzig. Wie beteſt du denn? fragte er ferner. „Ich bete: Lieber Gott! gib mir doch Verſtand, daß ich begreifen kann, was ich leſe.“ Das iſt recht, mein Sohn, ſo bete fort! „Ihr ſeyd nicht mein Vater.“ Ich bin dein geiſtlicher Vater. „Nein, Gott iſt mein geiſtlicher Vater; ihr ſeyd ein Menſch, ein Menſch kann kein Geiſt ſeyn.“ Wie, haſt du denn keinen Geiſt, keine Seele? „Ja freilich! wie koͤnnt Ihr ſo einfaͤltig fragen? Aber ich kenne meinen Vater.“ Kennſt du denn auch Gott, deinen geiſtlichen Vater? Heinrich laͤchelte. „Sollte ein Menſch Gott nicht kennen?“ Du kannſt ihn ja doch nicht ſehen. Heinrich ſchwieg, und holte ſeine wohlgebrauchte Bibel, und wies dem Paſtor den Spruch Roͤm. 1, V. 19 und 20. Nun hatte Stollbein genug. Er hieß den Knaben hinaus gehen, und ſagte zu dem Vater: Euer Kind wird alle ſeine Voreltern uͤbertreffen; fahret fort, ihn wohl unter der Ruthe zu halten; der Junge wird ein großer Mann in der Welt. Wilhelm hatte noch immer ſeine Wunde uͤber Dortchens Tod; er ſeufzte noch beſtaͤndig um ſie. Nunmehr nahm er auch zuweilen ſeinen Knaben mit nach dem alten Schloß, zeigte ihm ſeiner verklaͤrten Mutter Tritte und Schritte, alles, was ſie hier und da geredet und gethan hatte. Heinrich verliebte ſich ſo in ſeine Mutter, daß er alles, was er von ihr

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/79>, abgerufen am 26.11.2024.