Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

furcht in seiner Gegenwart; denn sein ganzer Mensch hatte
in der Einsamkeit einen unwiderstehlichen sanften Ernst an-
genommen, aus dem eine reine, einfältige Seele hervorblickte.
Oefters nahm er auch seinen Sohn mit, zu dem er eine ganze
neue, warme Liebe spürte. Beim Finden des Messers war er
Dortchens ganzen Charakter an dem Knaben gewahr wor-
den; es war sein und Dortchens Sohn; und über diesen
Aufschluß stürzte alle seine Neigung auf Heinrichen, und
er fand Dortchen in ihm wieder.

Nun führte Wilhelm seinen Heinrichen zum Ersten-
mal in die Kirche. Er erstaunte über alles, was er sah; so-
bald aber die Orgel anfing zu gehen, da wurde seine Empfin-
dung zu mächtig, er bekam gelinde Zuckungen; eine jede sanfte
Harmonie zerschmolz ihn, die Molltöne machten ihn in Thrä-
nen fließen, und das rasche Allegro machte ihn aufspringen.
Wie erbärmlich auch sonst der gute Organist sein Handwerk
verstand, so war es doch Wilhelmen unmöglich, seinen Sohn
davon abzubringen, nicht nach geendigter Predigt den Orga-
nisten und seine Orgel zu sehen. Er sah sie, und der Virtuose
spielte ihm zu Gefallen ein Andante, welches vielleicht das
erstemal in der Florenburger Kirche war, daß dieses einem
Bauernjungen zu Gefallen geschah.

Nun sah auch Heinrich zum Erstenmal seiner Mutter
Grab. Er wünschte nur, ihre noch übrigen Gebeine zu sehen;
da das aber nicht geschehen konnte, so setzte er sich auf den
Grabeshügel, pflückte einige Herbstblumen und Kräuter auf
demselben, steckte sie vor sich in seine Knopflöcher und ging
weg. Er empfand hier nicht so viel, als bei Findung des Mes-
sers: doch hatte er sich, nebst seinem Vater, die Augen roth
geweint. Jener Zufall war plötzlich und unerwartet, dieser
aber vorbedächtlich überlegt; auch war die Empfindung der
Kirchenmusik noch allzu stark in seinem Herzen.

Der alte Stilling bemerkte nun auch die Beruhigung
seines Wilhelms. Mit innigem Vergnügen sahe er alle
das Gute und Liebe an ihm und seinem Kinde; er wurde da-
durch noch mehr aufgeheitert und fast verjüngt.

Als er einmal im Frühling auf einen Montag Morgen nach

furcht in ſeiner Gegenwart; denn ſein ganzer Menſch hatte
in der Einſamkeit einen unwiderſtehlichen ſanften Ernſt an-
genommen, aus dem eine reine, einfaͤltige Seele hervorblickte.
Oefters nahm er auch ſeinen Sohn mit, zu dem er eine ganze
neue, warme Liebe ſpuͤrte. Beim Finden des Meſſers war er
Dortchens ganzen Charakter an dem Knaben gewahr wor-
den; es war ſein und Dortchens Sohn; und uͤber dieſen
Aufſchluß ſtuͤrzte alle ſeine Neigung auf Heinrichen, und
er fand Dortchen in ihm wieder.

Nun fuͤhrte Wilhelm ſeinen Heinrichen zum Erſten-
mal in die Kirche. Er erſtaunte uͤber alles, was er ſah; ſo-
bald aber die Orgel anfing zu gehen, da wurde ſeine Empfin-
dung zu maͤchtig, er bekam gelinde Zuckungen; eine jede ſanfte
Harmonie zerſchmolz ihn, die Molltoͤne machten ihn in Thraͤ-
nen fließen, und das raſche Allegro machte ihn aufſpringen.
Wie erbaͤrmlich auch ſonſt der gute Organiſt ſein Handwerk
verſtand, ſo war es doch Wilhelmen unmoͤglich, ſeinen Sohn
davon abzubringen, nicht nach geendigter Predigt den Orga-
niſten und ſeine Orgel zu ſehen. Er ſah ſie, und der Virtuoſe
ſpielte ihm zu Gefallen ein Andante, welches vielleicht das
erſtemal in der Florenburger Kirche war, daß dieſes einem
Bauernjungen zu Gefallen geſchah.

Nun ſah auch Heinrich zum Erſtenmal ſeiner Mutter
Grab. Er wuͤnſchte nur, ihre noch uͤbrigen Gebeine zu ſehen;
da das aber nicht geſchehen konnte, ſo ſetzte er ſich auf den
Grabeshuͤgel, pfluͤckte einige Herbſtblumen und Kraͤuter auf
demſelben, ſteckte ſie vor ſich in ſeine Knopfloͤcher und ging
weg. Er empfand hier nicht ſo viel, als bei Findung des Meſ-
ſers: doch hatte er ſich, nebſt ſeinem Vater, die Augen roth
geweint. Jener Zufall war ploͤtzlich und unerwartet, dieſer
aber vorbedaͤchtlich uͤberlegt; auch war die Empfindung der
Kirchenmuſik noch allzu ſtark in ſeinem Herzen.

Der alte Stilling bemerkte nun auch die Beruhigung
ſeines Wilhelms. Mit innigem Vergnuͤgen ſahe er alle
das Gute und Liebe an ihm und ſeinem Kinde; er wurde da-
durch noch mehr aufgeheitert und faſt verjuͤngt.

Als er einmal im Fruͤhling auf einen Montag Morgen nach

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0082" n="74"/>
furcht in &#x017F;einer Gegenwart; denn &#x017F;ein ganzer Men&#x017F;ch hatte<lb/>
in der Ein&#x017F;amkeit einen unwider&#x017F;tehlichen &#x017F;anften Ern&#x017F;t an-<lb/>
genommen, aus dem eine reine, einfa&#x0364;ltige Seele hervorblickte.<lb/>
Oefters nahm er auch &#x017F;einen Sohn mit, zu dem er eine ganze<lb/>
neue, warme Liebe &#x017F;pu&#x0364;rte. Beim Finden des Me&#x017F;&#x017F;ers war er<lb/><hi rendition="#g">Dortchens</hi> ganzen Charakter an dem Knaben gewahr wor-<lb/>
den; es war &#x017F;ein und <hi rendition="#g">Dortchens</hi> Sohn; und u&#x0364;ber die&#x017F;en<lb/>
Auf&#x017F;chluß &#x017F;tu&#x0364;rzte alle &#x017F;eine Neigung auf <hi rendition="#g">Heinrichen</hi>, und<lb/>
er fand <hi rendition="#g">Dortchen</hi> in ihm wieder.</p><lb/>
            <p>Nun fu&#x0364;hrte <hi rendition="#g">Wilhelm</hi> &#x017F;einen <hi rendition="#g">Heinrichen</hi> zum Er&#x017F;ten-<lb/>
mal in die Kirche. Er er&#x017F;taunte u&#x0364;ber alles, was er &#x017F;ah; &#x017F;o-<lb/>
bald aber die Orgel anfing zu gehen, da wurde &#x017F;eine Empfin-<lb/>
dung zu ma&#x0364;chtig, er bekam gelinde Zuckungen; eine jede &#x017F;anfte<lb/>
Harmonie zer&#x017F;chmolz ihn, die Mollto&#x0364;ne machten ihn in Thra&#x0364;-<lb/>
nen fließen, und das ra&#x017F;che Allegro machte ihn auf&#x017F;pringen.<lb/>
Wie erba&#x0364;rmlich auch &#x017F;on&#x017F;t der gute Organi&#x017F;t &#x017F;ein Handwerk<lb/>
ver&#x017F;tand, &#x017F;o war es doch <hi rendition="#g">Wilhelmen</hi> unmo&#x0364;glich, &#x017F;einen Sohn<lb/>
davon abzubringen, nicht nach geendigter Predigt den Orga-<lb/>
ni&#x017F;ten und &#x017F;eine Orgel zu &#x017F;ehen. Er &#x017F;ah &#x017F;ie, und der Virtuo&#x017F;e<lb/>
&#x017F;pielte ihm zu Gefallen ein Andante, welches vielleicht das<lb/>
er&#x017F;temal in der Florenburger Kirche war, daß die&#x017F;es einem<lb/>
Bauernjungen zu Gefallen ge&#x017F;chah.</p><lb/>
            <p>Nun &#x017F;ah auch <hi rendition="#g">Heinrich</hi> zum Er&#x017F;tenmal &#x017F;einer Mutter<lb/>
Grab. Er wu&#x0364;n&#x017F;chte nur, ihre noch u&#x0364;brigen Gebeine zu &#x017F;ehen;<lb/>
da das aber nicht ge&#x017F;chehen konnte, &#x017F;o &#x017F;etzte er &#x017F;ich auf den<lb/>
Grabeshu&#x0364;gel, pflu&#x0364;ckte einige Herb&#x017F;tblumen und Kra&#x0364;uter auf<lb/>
dem&#x017F;elben, &#x017F;teckte &#x017F;ie vor &#x017F;ich in &#x017F;eine Knopflo&#x0364;cher und ging<lb/>
weg. Er empfand hier nicht &#x017F;o viel, als bei Findung des Me&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ers: doch hatte er &#x017F;ich, neb&#x017F;t &#x017F;einem Vater, die Augen roth<lb/>
geweint. Jener Zufall war plo&#x0364;tzlich und unerwartet, die&#x017F;er<lb/>
aber vorbeda&#x0364;chtlich u&#x0364;berlegt; auch war die Empfindung der<lb/>
Kirchenmu&#x017F;ik noch allzu &#x017F;tark in &#x017F;einem Herzen.</p><lb/>
            <p>Der alte <hi rendition="#g">Stilling</hi> bemerkte nun auch die Beruhigung<lb/>
&#x017F;eines <hi rendition="#g">Wilhelms</hi>. Mit innigem Vergnu&#x0364;gen &#x017F;ahe er alle<lb/>
das Gute und Liebe an ihm und &#x017F;einem Kinde; er wurde da-<lb/>
durch noch mehr aufgeheitert und fa&#x017F;t verju&#x0364;ngt.</p><lb/>
            <p>Als er einmal im Fru&#x0364;hling auf einen Montag Morgen nach<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[74/0082] furcht in ſeiner Gegenwart; denn ſein ganzer Menſch hatte in der Einſamkeit einen unwiderſtehlichen ſanften Ernſt an- genommen, aus dem eine reine, einfaͤltige Seele hervorblickte. Oefters nahm er auch ſeinen Sohn mit, zu dem er eine ganze neue, warme Liebe ſpuͤrte. Beim Finden des Meſſers war er Dortchens ganzen Charakter an dem Knaben gewahr wor- den; es war ſein und Dortchens Sohn; und uͤber dieſen Aufſchluß ſtuͤrzte alle ſeine Neigung auf Heinrichen, und er fand Dortchen in ihm wieder. Nun fuͤhrte Wilhelm ſeinen Heinrichen zum Erſten- mal in die Kirche. Er erſtaunte uͤber alles, was er ſah; ſo- bald aber die Orgel anfing zu gehen, da wurde ſeine Empfin- dung zu maͤchtig, er bekam gelinde Zuckungen; eine jede ſanfte Harmonie zerſchmolz ihn, die Molltoͤne machten ihn in Thraͤ- nen fließen, und das raſche Allegro machte ihn aufſpringen. Wie erbaͤrmlich auch ſonſt der gute Organiſt ſein Handwerk verſtand, ſo war es doch Wilhelmen unmoͤglich, ſeinen Sohn davon abzubringen, nicht nach geendigter Predigt den Orga- niſten und ſeine Orgel zu ſehen. Er ſah ſie, und der Virtuoſe ſpielte ihm zu Gefallen ein Andante, welches vielleicht das erſtemal in der Florenburger Kirche war, daß dieſes einem Bauernjungen zu Gefallen geſchah. Nun ſah auch Heinrich zum Erſtenmal ſeiner Mutter Grab. Er wuͤnſchte nur, ihre noch uͤbrigen Gebeine zu ſehen; da das aber nicht geſchehen konnte, ſo ſetzte er ſich auf den Grabeshuͤgel, pfluͤckte einige Herbſtblumen und Kraͤuter auf demſelben, ſteckte ſie vor ſich in ſeine Knopfloͤcher und ging weg. Er empfand hier nicht ſo viel, als bei Findung des Meſ- ſers: doch hatte er ſich, nebſt ſeinem Vater, die Augen roth geweint. Jener Zufall war ploͤtzlich und unerwartet, dieſer aber vorbedaͤchtlich uͤberlegt; auch war die Empfindung der Kirchenmuſik noch allzu ſtark in ſeinem Herzen. Der alte Stilling bemerkte nun auch die Beruhigung ſeines Wilhelms. Mit innigem Vergnuͤgen ſahe er alle das Gute und Liebe an ihm und ſeinem Kinde; er wurde da- durch noch mehr aufgeheitert und faſt verjuͤngt. Als er einmal im Fruͤhling auf einen Montag Morgen nach

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/82
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/82>, abgerufen am 15.05.2024.