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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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sagte: Ja! und weinte laut. Heinrich war außer sich, und
eben im Begriff, wieder ohnmächtig zu werden; doch, der
Vater stand plötzlich auf und stellte ihn auf die Füße. Kaum
konnt' er stehen. Komm, sagte Wilhelm, wir wollen ein
wenig herumgehen. Sie suchten das Messer, konnten es aber
gar nicht wieder finden; es war ganz gewiß zwischen den
Steinen tief hinab gefallen. Sie suchten lange, aber sie fan-
den's nicht. Niemand war trauriger als Heinrich; doch
der Vater führte ihn weg und redete Folgendes mit ihm:

Mein Sohn! du bist nun bald neun Jahr alt. Ich hab'
dich gelehrt und unterrichtet so gut ich gekonnt habe; du hast
nun bald so viel Verstand, daß ich vernünftig mit dir reden
kann. Du hast noch Vieles in der Welt vor dir, und ich sel-
ber bin noch jung. Wir werden unser Leben auf unserer Kam-
mer nicht beschließen können; wir müssen wieder mit Men-
schen umgehen; ich will wiederum Schule halten, und du sollst
mit mir gehen und ferner lernen. Befleißige dich auf alles,
wozu du Lust hast, es soll dir an Büchern nicht fehlen; doch
aber, damit du etwas Gewisses habest, womit du dein Brod
erwerben könnest, so mußt du mein Handwerk lernen. Wird
dich denn der liebe Gott in einen bessern Beruf setzen, so hast
du Ursach, ihm zu danken; Niemand wird dich verachten, daß
du mein Sohn bist, und wenn du auch ein Fürst würdest. Hein-
rich
empfand Wonne über seines Vaters Vertraulichkeit; seine
Seele wurde unendlich erweitert; er fühlte eine so sanfte, un-
bezwingbare Freiheit, dergleichen sich nicht vorstellen läßt; mit
Einem Wort, er empfand jetzt zum Erstenmal, daß er ein Mensch
war! Er sah seinen Vater an, und sagte: Ich will alles
thun, was Ihr haben wollt! Wilhelm lächelte ihn an, und
fuhr fort: Du wirst glücklich seyn; nur mußt du nie verges-
sen, mit Gott vertraulich umzugehen, der wird dich alsdann
in deinen Schutz nehmen und dich vor allem Bösen bewahren.
Unter diesen Gesprächen kamen sie wieder nach Haus und auf
ihre Kammer. Von dieser Zeit an schien Wilhelm ganz
verändert; sein Herz war wieder geöffnet worden, und seine
frommen Gesinnungen hinderten ihn nicht, unter die Leute zu
gehen. Alle Menschen, auch die wildesten, empfanden Ehr-

ſagte: Ja! und weinte laut. Heinrich war außer ſich, und
eben im Begriff, wieder ohnmaͤchtig zu werden; doch, der
Vater ſtand ploͤtzlich auf und ſtellte ihn auf die Fuͤße. Kaum
konnt’ er ſtehen. Komm, ſagte Wilhelm, wir wollen ein
wenig herumgehen. Sie ſuchten das Meſſer, konnten es aber
gar nicht wieder finden; es war ganz gewiß zwiſchen den
Steinen tief hinab gefallen. Sie ſuchten lange, aber ſie fan-
den’s nicht. Niemand war trauriger als Heinrich; doch
der Vater fuͤhrte ihn weg und redete Folgendes mit ihm:

Mein Sohn! du biſt nun bald neun Jahr alt. Ich hab’
dich gelehrt und unterrichtet ſo gut ich gekonnt habe; du haſt
nun bald ſo viel Verſtand, daß ich vernuͤnftig mit dir reden
kann. Du haſt noch Vieles in der Welt vor dir, und ich ſel-
ber bin noch jung. Wir werden unſer Leben auf unſerer Kam-
mer nicht beſchließen koͤnnen; wir muͤſſen wieder mit Men-
ſchen umgehen; ich will wiederum Schule halten, und du ſollſt
mit mir gehen und ferner lernen. Befleißige dich auf alles,
wozu du Luſt haſt, es ſoll dir an Buͤchern nicht fehlen; doch
aber, damit du etwas Gewiſſes habeſt, womit du dein Brod
erwerben koͤnneſt, ſo mußt du mein Handwerk lernen. Wird
dich denn der liebe Gott in einen beſſern Beruf ſetzen, ſo haſt
du Urſach, ihm zu danken; Niemand wird dich verachten, daß
du mein Sohn biſt, und wenn du auch ein Fuͤrſt wuͤrdeſt. Hein-
rich
empfand Wonne uͤber ſeines Vaters Vertraulichkeit; ſeine
Seele wurde unendlich erweitert; er fuͤhlte eine ſo ſanfte, un-
bezwingbare Freiheit, dergleichen ſich nicht vorſtellen laͤßt; mit
Einem Wort, er empfand jetzt zum Erſtenmal, daß er ein Menſch
war! Er ſah ſeinen Vater an, und ſagte: Ich will alles
thun, was Ihr haben wollt! Wilhelm laͤchelte ihn an, und
fuhr fort: Du wirſt gluͤcklich ſeyn; nur mußt du nie vergeſ-
ſen, mit Gott vertraulich umzugehen, der wird dich alsdann
in deinen Schutz nehmen und dich vor allem Boͤſen bewahren.
Unter dieſen Geſpraͤchen kamen ſie wieder nach Haus und auf
ihre Kammer. Von dieſer Zeit an ſchien Wilhelm ganz
veraͤndert; ſein Herz war wieder geoͤffnet worden, und ſeine
frommen Geſinnungen hinderten ihn nicht, unter die Leute zu
gehen. Alle Menſchen, auch die wildeſten, empfanden Ehr-

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[73/0081] ſagte: Ja! und weinte laut. Heinrich war außer ſich, und eben im Begriff, wieder ohnmaͤchtig zu werden; doch, der Vater ſtand ploͤtzlich auf und ſtellte ihn auf die Fuͤße. Kaum konnt’ er ſtehen. Komm, ſagte Wilhelm, wir wollen ein wenig herumgehen. Sie ſuchten das Meſſer, konnten es aber gar nicht wieder finden; es war ganz gewiß zwiſchen den Steinen tief hinab gefallen. Sie ſuchten lange, aber ſie fan- den’s nicht. Niemand war trauriger als Heinrich; doch der Vater fuͤhrte ihn weg und redete Folgendes mit ihm: Mein Sohn! du biſt nun bald neun Jahr alt. Ich hab’ dich gelehrt und unterrichtet ſo gut ich gekonnt habe; du haſt nun bald ſo viel Verſtand, daß ich vernuͤnftig mit dir reden kann. Du haſt noch Vieles in der Welt vor dir, und ich ſel- ber bin noch jung. Wir werden unſer Leben auf unſerer Kam- mer nicht beſchließen koͤnnen; wir muͤſſen wieder mit Men- ſchen umgehen; ich will wiederum Schule halten, und du ſollſt mit mir gehen und ferner lernen. Befleißige dich auf alles, wozu du Luſt haſt, es ſoll dir an Buͤchern nicht fehlen; doch aber, damit du etwas Gewiſſes habeſt, womit du dein Brod erwerben koͤnneſt, ſo mußt du mein Handwerk lernen. Wird dich denn der liebe Gott in einen beſſern Beruf ſetzen, ſo haſt du Urſach, ihm zu danken; Niemand wird dich verachten, daß du mein Sohn biſt, und wenn du auch ein Fuͤrſt wuͤrdeſt. Hein- rich empfand Wonne uͤber ſeines Vaters Vertraulichkeit; ſeine Seele wurde unendlich erweitert; er fuͤhlte eine ſo ſanfte, un- bezwingbare Freiheit, dergleichen ſich nicht vorſtellen laͤßt; mit Einem Wort, er empfand jetzt zum Erſtenmal, daß er ein Menſch war! Er ſah ſeinen Vater an, und ſagte: Ich will alles thun, was Ihr haben wollt! Wilhelm laͤchelte ihn an, und fuhr fort: Du wirſt gluͤcklich ſeyn; nur mußt du nie vergeſ- ſen, mit Gott vertraulich umzugehen, der wird dich alsdann in deinen Schutz nehmen und dich vor allem Boͤſen bewahren. Unter dieſen Geſpraͤchen kamen ſie wieder nach Haus und auf ihre Kammer. Von dieſer Zeit an ſchien Wilhelm ganz veraͤndert; ſein Herz war wieder geoͤffnet worden, und ſeine frommen Geſinnungen hinderten ihn nicht, unter die Leute zu gehen. Alle Menſchen, auch die wildeſten, empfanden Ehr-

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/81>, abgerufen am 25.11.2024.