er wurde 101 Jahr alt, daher hab' ich ihn noch eben gekannt. Dieser Heinrich war ein sehr lebhafter Mann, kaufte sich in seiner Jugend ein Pferd, wurde ein Fuhrmann und fuhr nach Braunschweig, Brabant und Sachsen. Er war ein Schirr- meister, hatte gemeiniglich 20 bis 30 Fuhrleute bei sich. Zu der Zeit waren die Räubereien noch so sehr im Gange, und noch wenig Wirthshäuser an den Straßen, daher nahmen die Fuhrleute Proviant mit sich. Des Abends stellten sie die Kar- ren in einen Kreis herum, so daß einer an den andern stieß; die Pferde stellten sie mitten ein, und mein Großvater mit den Fuhrleuten war bei ihnen. Wann sie dann gefüttert hat- ten, so rief er: Zum Gebet, ihr Nachbarn! dann kamen sie alle, und Heinrich Stilling betete sehr ernstlich zu Gott. Einer von ihnen hielt die Wache, und die andern krochen un- ter ihre Karren an's Trockne, und schliefen. Sie führten aber immer scharf geladen Gewehr und gute Säbel bei sich. Nun trug es sich einmal zu, daß mein Großvater selbst die Wache hatte; sie lagen im Hessenland auf einer Wiese, ihrer wa- ren sechs und zwanzig starke Männer. Gegen eilf Uhr des Abends hörte er einige Pferde auf der Wiese reiten; er weckte in der Stille alle Fuhrleute und stand hinter seinem Karren. Heinrich Stilling aber lag auf seinen Knieen, und betete bei sich selbst ernstlich, Endlich stieg er auf seinen Karren, und sah umher. Es war genug Licht, so, daß der Mond eben untergehen wollte. Da sah er ungefähr zwanzig Männer zu Pferd, wie sie abstiegen und leise auf die Karren losgingen. Er kroch wieder herab, ging unter den Karren, damit sie ihn nicht sähen, gab aber wohl Acht, was sie anfingen. Die Räuber gingen rund um die Wagenburg herum, und als sie keinen Eingang fanden, fingen sie an, an einem Karren zu ziehen. Stilling, sobald er das sah, rief: im Namen Gottes schießt! Ein jeder von den Fuhrleuten hatte den Hah- nen aufgezogen und schoßen unter den Karren heraus, so daß der Räuber sofort Sechse niedersanken; die andern Räuber erschracken, zogen sich ein wenig zurück und redeten zusammen. Die Fuhrleute luden wieder ihre Flinten: nun sagte Stil- ling: gebt Acht, wenn sie wieder näher kommen, dann schießt!
er wurde 101 Jahr alt, daher hab’ ich ihn noch eben gekannt. Dieſer Heinrich war ein ſehr lebhafter Mann, kaufte ſich in ſeiner Jugend ein Pferd, wurde ein Fuhrmann und fuhr nach Braunſchweig, Brabant und Sachſen. Er war ein Schirr- meiſter, hatte gemeiniglich 20 bis 30 Fuhrleute bei ſich. Zu der Zeit waren die Raͤubereien noch ſo ſehr im Gange, und noch wenig Wirthshaͤuſer an den Straßen, daher nahmen die Fuhrleute Proviant mit ſich. Des Abends ſtellten ſie die Kar- ren in einen Kreis herum, ſo daß einer an den andern ſtieß; die Pferde ſtellten ſie mitten ein, und mein Großvater mit den Fuhrleuten war bei ihnen. Wann ſie dann gefuͤttert hat- ten, ſo rief er: Zum Gebet, ihr Nachbarn! dann kamen ſie alle, und Heinrich Stilling betete ſehr ernſtlich zu Gott. Einer von ihnen hielt die Wache, und die andern krochen un- ter ihre Karren an’s Trockne, und ſchliefen. Sie fuͤhrten aber immer ſcharf geladen Gewehr und gute Saͤbel bei ſich. Nun trug es ſich einmal zu, daß mein Großvater ſelbſt die Wache hatte; ſie lagen im Heſſenland auf einer Wieſe, ihrer wa- ren ſechs und zwanzig ſtarke Maͤnner. Gegen eilf Uhr des Abends hoͤrte er einige Pferde auf der Wieſe reiten; er weckte in der Stille alle Fuhrleute und ſtand hinter ſeinem Karren. Heinrich Stilling aber lag auf ſeinen Knieen, und betete bei ſich ſelbſt ernſtlich, Endlich ſtieg er auf ſeinen Karren, und ſah umher. Es war genug Licht, ſo, daß der Mond eben untergehen wollte. Da ſah er ungefaͤhr zwanzig Maͤnner zu Pferd, wie ſie abſtiegen und leiſe auf die Karren losgingen. Er kroch wieder herab, ging unter den Karren, damit ſie ihn nicht ſaͤhen, gab aber wohl Acht, was ſie anfingen. Die Raͤuber gingen rund um die Wagenburg herum, und als ſie keinen Eingang fanden, fingen ſie an, an einem Karren zu ziehen. Stilling, ſobald er das ſah, rief: im Namen Gottes ſchießt! Ein jeder von den Fuhrleuten hatte den Hah- nen aufgezogen und ſchoßen unter den Karren heraus, ſo daß der Raͤuber ſofort Sechſe niederſanken; die andern Raͤuber erſchracken, zogen ſich ein wenig zuruͤck und redeten zuſammen. Die Fuhrleute luden wieder ihre Flinten: nun ſagte Stil- ling: gebt Acht, wenn ſie wieder naͤher kommen, dann ſchießt!
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er wurde 101 Jahr alt, daher hab’ ich ihn noch eben gekannt.
Dieſer Heinrich war ein ſehr lebhafter Mann, kaufte ſich
in ſeiner Jugend ein Pferd, wurde ein Fuhrmann und fuhr
nach Braunſchweig, Brabant und Sachſen. Er war ein Schirr-
meiſter, hatte gemeiniglich 20 bis 30 Fuhrleute bei ſich. Zu
der Zeit waren die Raͤubereien noch ſo ſehr im Gange, und
noch wenig Wirthshaͤuſer an den Straßen, daher nahmen die
Fuhrleute Proviant mit ſich. Des Abends ſtellten ſie die Kar-
ren in einen Kreis herum, ſo daß einer an den andern ſtieß;
die Pferde ſtellten ſie mitten ein, und mein Großvater mit
den Fuhrleuten war bei ihnen. Wann ſie dann gefuͤttert hat-
ten, ſo rief er: Zum Gebet, ihr Nachbarn! dann kamen ſie
alle, und Heinrich Stilling betete ſehr ernſtlich zu Gott.
Einer von ihnen hielt die Wache, und die andern krochen un-
ter ihre Karren an’s Trockne, und ſchliefen. Sie fuͤhrten aber
immer ſcharf geladen Gewehr und gute Saͤbel bei ſich. Nun
trug es ſich einmal zu, daß mein Großvater ſelbſt die Wache
hatte; ſie lagen im Heſſenland auf einer Wieſe, ihrer wa-
ren ſechs und zwanzig ſtarke Maͤnner. Gegen eilf Uhr des
Abends hoͤrte er einige Pferde auf der Wieſe reiten; er weckte
in der Stille alle Fuhrleute und ſtand hinter ſeinem Karren.
Heinrich Stilling aber lag auf ſeinen Knieen, und betete
bei ſich ſelbſt ernſtlich, Endlich ſtieg er auf ſeinen Karren,
und ſah umher. Es war genug Licht, ſo, daß der Mond eben
untergehen wollte. Da ſah er ungefaͤhr zwanzig Maͤnner zu
Pferd, wie ſie abſtiegen und leiſe auf die Karren losgingen.
Er kroch wieder herab, ging unter den Karren, damit ſie ihn
nicht ſaͤhen, gab aber wohl Acht, was ſie anfingen. Die
Raͤuber gingen rund um die Wagenburg herum, und als ſie
keinen Eingang fanden, fingen ſie an, an einem Karren zu
ziehen. Stilling, ſobald er das ſah, rief: im Namen
Gottes ſchießt! Ein jeder von den Fuhrleuten hatte den Hah-
nen aufgezogen und ſchoßen unter den Karren heraus, ſo daß
der Raͤuber ſofort Sechſe niederſanken; die andern Raͤuber
erſchracken, zogen ſich ein wenig zuruͤck und redeten zuſammen.
Die Fuhrleute luden wieder ihre Flinten: nun ſagte Stil-
ling: gebt Acht, wenn ſie wieder naͤher kommen, dann ſchießt!
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1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/85>, abgerufen am 25.11.2024.
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