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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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Wiesen, Wälder und Gebüsche, Berg auf und ab, und die
reine wahre Natur um ihn machte die tiefsten feierlichen Ein-
drücke in sein offenes, freies Herz. Abends kamen dann un-
sere fünf lieben Leute zusammen; sie speisten, schütteten eins
dem andern seine Seele aus, und sonderlich erzählte Heinrich
seine Historien, woran sich alle, Margareth nicht ausge-
nommen, ungemein ergötzten. Sogar der ernste pietistische
Wilhelm hatte Freude daran, und las sie wohl selbsten Sonn-
tags Nachmittags, wenn er nach dem alten Schloß wallfahrtete.
Heinrich sah ihm dann immer in's Buch, wo er las, und
wenn bald eine rührende Stelle kam, so jauchzte er in sich sel-
ber, und wenn er sah, daß sein Vater dabei empfand, so war
seine Freude vollkommen.

Indessen ging doch des jungen Stillings Lateinlernen
vortrefflich von statten, wenigstens lateinische Historien zu le-
sen, zu verstehen, lateinisch zu reden und zu schreiben. Ob
das nun genug sey, oder ob mehr erfordert werde, weiß ich
nicht, Herr Pastor Stollbein wenigstens forderte mehr.
Nachdem Heinrich ohngefähr ein Jahr in die lateinische
Schule gegangen, so fiel es gemeldetem Herrn einmal ein, un-
sern Studenten zu examiniren. Er sah ihn aus seinem Stu-
benfenster vor der Schule stehen, er pfiff, und Heinrich
flog zu ihm. Lernst du auch brav?

"Ja, Herr Pastor."

Wie viel Verba anomala sind?

"Ich weiß es nicht."

Wie, Flegel, du weißt's nicht? Es möchte leicht, ich gäb
dir eins auf's Ohr. Sum, possum, nu! wie weiter?

"Das hab ich nicht gelernt."

He, Madlene! ruf den Schulmeister.

Der Schulmeister kam.

Was laßt ihr den Jungen lernen?

Der Schulmeister stand an der Thüre, den Hut unterem
Arm, und sagte demüthig:

"Latein."

Da! ihr Nichtsnutziger, er weiß nicht einmal wie viel Verba
anomala
sind.


Wieſen, Waͤlder und Gebuͤſche, Berg auf und ab, und die
reine wahre Natur um ihn machte die tiefſten feierlichen Ein-
druͤcke in ſein offenes, freies Herz. Abends kamen dann un-
ſere fuͤnf lieben Leute zuſammen; ſie ſpeisten, ſchuͤtteten eins
dem andern ſeine Seele aus, und ſonderlich erzaͤhlte Heinrich
ſeine Hiſtorien, woran ſich alle, Margareth nicht ausge-
nommen, ungemein ergoͤtzten. Sogar der ernſte pietiſtiſche
Wilhelm hatte Freude daran, und las ſie wohl ſelbſten Sonn-
tags Nachmittags, wenn er nach dem alten Schloß wallfahrtete.
Heinrich ſah ihm dann immer in’s Buch, wo er las, und
wenn bald eine ruͤhrende Stelle kam, ſo jauchzte er in ſich ſel-
ber, und wenn er ſah, daß ſein Vater dabei empfand, ſo war
ſeine Freude vollkommen.

Indeſſen ging doch des jungen Stillings Lateinlernen
vortrefflich von ſtatten, wenigſtens lateiniſche Hiſtorien zu le-
ſen, zu verſtehen, lateiniſch zu reden und zu ſchreiben. Ob
das nun genug ſey, oder ob mehr erfordert werde, weiß ich
nicht, Herr Paſtor Stollbein wenigſtens forderte mehr.
Nachdem Heinrich ohngefaͤhr ein Jahr in die lateiniſche
Schule gegangen, ſo fiel es gemeldetem Herrn einmal ein, un-
ſern Studenten zu examiniren. Er ſah ihn aus ſeinem Stu-
benfenſter vor der Schule ſtehen, er pfiff, und Heinrich
flog zu ihm. Lernſt du auch brav?

„Ja, Herr Paſtor.“

Wie viel Verba anomala ſind?

„Ich weiß es nicht.“

Wie, Flegel, du weißt’s nicht? Es moͤchte leicht, ich gaͤb
dir eins auf’s Ohr. Sum, possum, nu! wie weiter?

„Das hab ich nicht gelernt.“

He, Madlene! ruf den Schulmeiſter.

Der Schulmeiſter kam.

Was laßt ihr den Jungen lernen?

Der Schulmeiſter ſtand an der Thuͤre, den Hut unterem
Arm, und ſagte demuͤthig:

„Latein.“

Da! ihr Nichtsnutziger, er weiß nicht einmal wie viel Verba
anomala
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[84/0092] Wieſen, Waͤlder und Gebuͤſche, Berg auf und ab, und die reine wahre Natur um ihn machte die tiefſten feierlichen Ein- druͤcke in ſein offenes, freies Herz. Abends kamen dann un- ſere fuͤnf lieben Leute zuſammen; ſie ſpeisten, ſchuͤtteten eins dem andern ſeine Seele aus, und ſonderlich erzaͤhlte Heinrich ſeine Hiſtorien, woran ſich alle, Margareth nicht ausge- nommen, ungemein ergoͤtzten. Sogar der ernſte pietiſtiſche Wilhelm hatte Freude daran, und las ſie wohl ſelbſten Sonn- tags Nachmittags, wenn er nach dem alten Schloß wallfahrtete. Heinrich ſah ihm dann immer in’s Buch, wo er las, und wenn bald eine ruͤhrende Stelle kam, ſo jauchzte er in ſich ſel- ber, und wenn er ſah, daß ſein Vater dabei empfand, ſo war ſeine Freude vollkommen. Indeſſen ging doch des jungen Stillings Lateinlernen vortrefflich von ſtatten, wenigſtens lateiniſche Hiſtorien zu le- ſen, zu verſtehen, lateiniſch zu reden und zu ſchreiben. Ob das nun genug ſey, oder ob mehr erfordert werde, weiß ich nicht, Herr Paſtor Stollbein wenigſtens forderte mehr. Nachdem Heinrich ohngefaͤhr ein Jahr in die lateiniſche Schule gegangen, ſo fiel es gemeldetem Herrn einmal ein, un- ſern Studenten zu examiniren. Er ſah ihn aus ſeinem Stu- benfenſter vor der Schule ſtehen, er pfiff, und Heinrich flog zu ihm. Lernſt du auch brav? „Ja, Herr Paſtor.“ Wie viel Verba anomala ſind? „Ich weiß es nicht.“ Wie, Flegel, du weißt’s nicht? Es moͤchte leicht, ich gaͤb dir eins auf’s Ohr. Sum, possum, nu! wie weiter? „Das hab ich nicht gelernt.“ He, Madlene! ruf den Schulmeiſter. Der Schulmeiſter kam. Was laßt ihr den Jungen lernen? Der Schulmeiſter ſtand an der Thuͤre, den Hut unterem Arm, und ſagte demuͤthig: „Latein.“ Da! ihr Nichtsnutziger, er weiß nicht einmal wie viel Verba anomala ſind.

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/92>, abgerufen am 15.05.2024.