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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Die Lehrjahre.
heit soviel studirt und sogar kopirt als Pietro Paolo Rubens.
Dennoch wird man kein Element seiner Malweise (ich sage nicht,
einzelne Figuren und Motive) aufzeigen können, das er nicht von
Haus aus hätte. Was ihm Italien und die Antike gegeben haben
könnte, wäre ein Zug der Freiheit und Grossheit: aber man
braucht nur den Kopf des Mannes anzusehen, um zu fühlen, dass
er gerade diesen Zug mit auf die Welt gebracht hat. Andere
haben diess erlangt auch ohne Italien, wie Murillo, unter trocknen
Pedanten. Der italienische Formenadel hat seinen derbsinn-
lichen Geschmack nicht gemässigt, sind doch in den ersten Jahren
nach der Reise seine Gestalten am brutalsten. Wenn etwas in
Italien damals die Maler bestrickte, selbst die Bologneser trotz
ihres Schulhasses, so war es die Manier der tenebrosi; Rubens
hat sie mit Interesse betrachtet und studirt, aber sie haben ihn
von seinem diametral entgegengesetzten Licht- und Farbengefühl
nicht abgelenkt. Tizian, den er dutzendweise kopirt hat, ist er
nur im vagsten Sinne verwandt, im Grund ganz andren Geistes:
von demjenigen Italiener aber dem er am ähnlichsten ist, Barocci,
kommt in seinem Nachlass nichts vor, obwol er seit Goltzius in
den Niederlanden wolbekannt war und nachgeahmt wurde.

So wird auch das Neueste, ästhetisch werthvolle, künstlerisch
einnehmende, dem jungen Mann, und wäre er so lernbegierig
wie Raphael, nicht ein einziges Element zuführen, das nicht in
seiner vis repraesentativa universi präformirt wäre. So ist z. B.
Melozzo mit seiner Horizontalperspective, die auf norditalienischem
Boden entsprungen war und dort ziemlich unabhängig von Lom-
barden und Venezianern gepflegt worden ist, an Raphael,
trotz seines universellen Zugs und, obwol er die bewunderns-
würdigen Fresken in SS. Apostoli vor Augen hatte, spurlos ab-
geglitten. --

Wie jede Kunst ausser ihren stets wechselnden geschicht-
lichen Bestandtheilen auch einen unveränderlichen Kern hat, weil
sie in der unveränderlichen Natur unserer Sinne und in der
ebenso unveränderlichen der Erscheinung begründet ist, so hat
sie auch gewisse typische Strahlenbrechungen, denen typische
Organisationen der Künstler entsprechen. Diese kehren zu allen
Zeiten wieder, wo der stets und überall vorhandene Keim des
Kunsttriebs Raum und Luft bekommt, ziemlich ähnlich unter
den verschiedensten Bedingungen. Von jeher hat man Doppel-
gänger moderner Maler in den griechischen zu sehen geglaubt,
obwol die letzteren nur aus mageren Berichten bekannt sind.

Die Lehrjahre.
heit soviel studirt und sogar kopirt als Pietro Paolo Rubens.
Dennoch wird man kein Element seiner Malweise (ich sage nicht,
einzelne Figuren und Motive) aufzeigen können, das er nicht von
Haus aus hätte. Was ihm Italien und die Antike gegeben haben
könnte, wäre ein Zug der Freiheit und Grossheit: aber man
braucht nur den Kopf des Mannes anzusehen, um zu fühlen, dass
er gerade diesen Zug mit auf die Welt gebracht hat. Andere
haben diess erlangt auch ohne Italien, wie Murillo, unter trocknen
Pedanten. Der italienische Formenadel hat seinen derbsinn-
lichen Geschmack nicht gemässigt, sind doch in den ersten Jahren
nach der Reise seine Gestalten am brutalsten. Wenn etwas in
Italien damals die Maler bestrickte, selbst die Bologneser trotz
ihres Schulhasses, so war es die Manier der tenebrosi; Rubens
hat sie mit Interesse betrachtet und studirt, aber sie haben ihn
von seinem diametral entgegengesetzten Licht- und Farbengefühl
nicht abgelenkt. Tizian, den er dutzendweise kopirt hat, ist er
nur im vagsten Sinne verwandt, im Grund ganz andren Geistes:
von demjenigen Italiener aber dem er am ähnlichsten ist, Barocci,
kommt in seinem Nachlass nichts vor, obwol er seit Goltzius in
den Niederlanden wolbekannt war und nachgeahmt wurde.

So wird auch das Neueste, ästhetisch werthvolle, künstlerisch
einnehmende, dem jungen Mann, und wäre er so lernbegierig
wie Raphael, nicht ein einziges Element zuführen, das nicht in
seiner vis repraesentativa universi präformirt wäre. So ist z. B.
Melozzo mit seiner Horizontalperspective, die auf norditalienischem
Boden entsprungen war und dort ziemlich unabhängig von Lom-
barden und Venezianern gepflegt worden ist, an Raphael,
trotz seines universellen Zugs und, obwol er die bewunderns-
würdigen Fresken in SS. Apostoli vor Augen hatte, spurlos ab-
geglitten. —

Wie jede Kunst ausser ihren stets wechselnden geschicht-
lichen Bestandtheilen auch einen unveränderlichen Kern hat, weil
sie in der unveränderlichen Natur unserer Sinne und in der
ebenso unveränderlichen der Erscheinung begründet ist, so hat
sie auch gewisse typische Strahlenbrechungen, denen typische
Organisationen der Künstler entsprechen. Diese kehren zu allen
Zeiten wieder, wo der stets und überall vorhandene Keim des
Kunsttriebs Raum und Luft bekommt, ziemlich ähnlich unter
den verschiedensten Bedingungen. Von jeher hat man Doppel-
gänger moderner Maler in den griechischen zu sehen geglaubt,
obwol die letzteren nur aus mageren Berichten bekannt sind.

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[125/0145] Die Lehrjahre. heit soviel studirt und sogar kopirt als Pietro Paolo Rubens. Dennoch wird man kein Element seiner Malweise (ich sage nicht, einzelne Figuren und Motive) aufzeigen können, das er nicht von Haus aus hätte. Was ihm Italien und die Antike gegeben haben könnte, wäre ein Zug der Freiheit und Grossheit: aber man braucht nur den Kopf des Mannes anzusehen, um zu fühlen, dass er gerade diesen Zug mit auf die Welt gebracht hat. Andere haben diess erlangt auch ohne Italien, wie Murillo, unter trocknen Pedanten. Der italienische Formenadel hat seinen derbsinn- lichen Geschmack nicht gemässigt, sind doch in den ersten Jahren nach der Reise seine Gestalten am brutalsten. Wenn etwas in Italien damals die Maler bestrickte, selbst die Bologneser trotz ihres Schulhasses, so war es die Manier der tenebrosi; Rubens hat sie mit Interesse betrachtet und studirt, aber sie haben ihn von seinem diametral entgegengesetzten Licht- und Farbengefühl nicht abgelenkt. Tizian, den er dutzendweise kopirt hat, ist er nur im vagsten Sinne verwandt, im Grund ganz andren Geistes: von demjenigen Italiener aber dem er am ähnlichsten ist, Barocci, kommt in seinem Nachlass nichts vor, obwol er seit Goltzius in den Niederlanden wolbekannt war und nachgeahmt wurde. So wird auch das Neueste, ästhetisch werthvolle, künstlerisch einnehmende, dem jungen Mann, und wäre er so lernbegierig wie Raphael, nicht ein einziges Element zuführen, das nicht in seiner vis repraesentativa universi präformirt wäre. So ist z. B. Melozzo mit seiner Horizontalperspective, die auf norditalienischem Boden entsprungen war und dort ziemlich unabhängig von Lom- barden und Venezianern gepflegt worden ist, an Raphael, trotz seines universellen Zugs und, obwol er die bewunderns- würdigen Fresken in SS. Apostoli vor Augen hatte, spurlos ab- geglitten. — Wie jede Kunst ausser ihren stets wechselnden geschicht- lichen Bestandtheilen auch einen unveränderlichen Kern hat, weil sie in der unveränderlichen Natur unserer Sinne und in der ebenso unveränderlichen der Erscheinung begründet ist, so hat sie auch gewisse typische Strahlenbrechungen, denen typische Organisationen der Künstler entsprechen. Diese kehren zu allen Zeiten wieder, wo der stets und überall vorhandene Keim des Kunsttriebs Raum und Luft bekommt, ziemlich ähnlich unter den verschiedensten Bedingungen. Von jeher hat man Doppel- gänger moderner Maler in den griechischen zu sehen geglaubt, obwol die letzteren nur aus mageren Berichten bekannt sind.

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/145>, abgerufen am 21.11.2024.