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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Viertes Buch.
man in Gemäldegalerien ein grosser Maler werden kann. Er
hat seinen Stil in den Sälen des Alcazar und Escorial und in
den Palästen der Granden zusammengelesen, wo er, wie Palomino
erzählt, viele Stücke des Tizian, van Dyck und Rubens kopirte,
ohne das Zeichnen nach den Gypsabgüssen der Antike und das
Vorbild der grossen Manier und Korrektheit des Velazquez zu
vernachlässigen (Museo III, 420). Von diesen sechs Elementen
(Spagnoletto mit eingeschlossen) wäre also dasjenige eine Mischung,
was man Stil des Murillo nennt. Niemand wird zweifeln, dass
er sich diese Meister recht gründlich angesehn, dass er sich vor
ihnen im Staub gebückt, dass er sie mit Pinsel und Palette
studirt hat. Hätte er aber aus ihnen seinen Stil zusammensetzen
wollen, wie hundert Jahre später der Ritter Mengs, so würde er
nur die Reihe der Vincenz Carducho, Carrenno oder Cerezo ver-
mehrt haben, die in der That in den königlichen Galerien ge-
worden sind was sie sind, und in Farbe und Strich ihren Vor-
bildern oft recht nahe gekommen sind. Jene Kritiker glaubten
das X eines Künstlercharakters zu begreifen, indem sie eine Glei-
chung aufstellten, deren Werthe aus mindestens einem halben
Dutzend Namen der Vergangenheit bestanden. Heute ist der
Eklekticismus möglichst discreditirt; aber die Theorie der Ein-
flüsse ist um so beliebter, denn der mechanische Geist kann
sich das Werden des Genies nur analog der Funktionsweise
seines eigenen Kopfs vorstellen.

In der That versetzen solche Studien, solche Berührungen
mit grossen Genossen den wahren Künstler in jenes Spiel
von Anziehungen und Abstossungen, wo im Kampf gegen deren
mächtigen Einfluss (durch den die Nachahmer alles sind was sie
sind) die Eigenart zum Dasein entbunden wird. Der fünfund-
zwanzigjährige Murillo mag sich in den Sälen des Alcazar als
Nichts vorgekommen sein; aber er sagte sich zugleich, wenn ihm
durch ein Wunder ein Instrument gleich denen dieser Hochbe-
gnadigten bescheert würde, dann würde er ganz andere Akkorde
anschlagen, ein ganz neues Blatt den Annalen der Kunst hinzufügen.

Man sehe ihre Bilder nebeneinander: Wollte man angeben
wie unähnlich sie einander sind, man würde nicht zu Ende kommen.
Wie weit ab liegt seine hochgestimmte Licht- und Farbenglut
von dem kühlen Silberton seines Berathers! Wie wenig verwandt
ist sein duftiges Chiaroscuro, seine offene helle Begeisterung der
grimmigen, verschlossenen Leidenschaftlichkeit des Valencianers
und dessen schroffen Gegensätzen, oder der trüben Weiner-

Viertes Buch.
man in Gemäldegalerien ein grosser Maler werden kann. Er
hat seinen Stil in den Sälen des Alcazar und Escorial und in
den Palästen der Granden zusammengelesen, wo er, wie Palomino
erzählt, viele Stücke des Tizian, van Dyck und Rubens kopirte,
ohne das Zeichnen nach den Gypsabgüssen der Antike und das
Vorbild der grossen Manier und Korrektheit des Velazquez zu
vernachlässigen (Museo III, 420). Von diesen sechs Elementen
(Spagnoletto mit eingeschlossen) wäre also dasjenige eine Mischung,
was man Stil des Murillo nennt. Niemand wird zweifeln, dass
er sich diese Meister recht gründlich angesehn, dass er sich vor
ihnen im Staub gebückt, dass er sie mit Pinsel und Palette
studirt hat. Hätte er aber aus ihnen seinen Stil zusammensetzen
wollen, wie hundert Jahre später der Ritter Mengs, so würde er
nur die Reihe der Vincenz Carducho, Carreño oder Cerezo ver-
mehrt haben, die in der That in den königlichen Galerien ge-
worden sind was sie sind, und in Farbe und Strich ihren Vor-
bildern oft recht nahe gekommen sind. Jene Kritiker glaubten
das X eines Künstlercharakters zu begreifen, indem sie eine Glei-
chung aufstellten, deren Werthe aus mindestens einem halben
Dutzend Namen der Vergangenheit bestanden. Heute ist der
Eklekticismus möglichst discreditirt; aber die Theorie der Ein-
flüsse ist um so beliebter, denn der mechanische Geist kann
sich das Werden des Genies nur analog der Funktionsweise
seines eigenen Kopfs vorstellen.

In der That versetzen solche Studien, solche Berührungen
mit grossen Genossen den wahren Künstler in jenes Spiel
von Anziehungen und Abstossungen, wo im Kampf gegen deren
mächtigen Einfluss (durch den die Nachahmer alles sind was sie
sind) die Eigenart zum Dasein entbunden wird. Der fünfund-
zwanzigjährige Murillo mag sich in den Sälen des Alcazar als
Nichts vorgekommen sein; aber er sagte sich zugleich, wenn ihm
durch ein Wunder ein Instrument gleich denen dieser Hochbe-
gnadigten bescheert würde, dann würde er ganz andere Akkorde
anschlagen, ein ganz neues Blatt den Annalen der Kunst hinzufügen.

Man sehe ihre Bilder nebeneinander: Wollte man angeben
wie unähnlich sie einander sind, man würde nicht zu Ende kommen.
Wie weit ab liegt seine hochgestimmte Licht- und Farbenglut
von dem kühlen Silberton seines Berathers! Wie wenig verwandt
ist sein duftiges Chiaroscuro, seine offene helle Begeisterung der
grimmigen, verschlossenen Leidenschaftlichkeit des Valencianers
und dessen schroffen Gegensätzen, oder der trüben Weiner-

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[412/0440] Viertes Buch. man in Gemäldegalerien ein grosser Maler werden kann. Er hat seinen Stil in den Sälen des Alcazar und Escorial und in den Palästen der Granden zusammengelesen, wo er, wie Palomino erzählt, viele Stücke des Tizian, van Dyck und Rubens kopirte, ohne das Zeichnen nach den Gypsabgüssen der Antike und das Vorbild der grossen Manier und Korrektheit des Velazquez zu vernachlässigen (Museo III, 420). Von diesen sechs Elementen (Spagnoletto mit eingeschlossen) wäre also dasjenige eine Mischung, was man Stil des Murillo nennt. Niemand wird zweifeln, dass er sich diese Meister recht gründlich angesehn, dass er sich vor ihnen im Staub gebückt, dass er sie mit Pinsel und Palette studirt hat. Hätte er aber aus ihnen seinen Stil zusammensetzen wollen, wie hundert Jahre später der Ritter Mengs, so würde er nur die Reihe der Vincenz Carducho, Carreño oder Cerezo ver- mehrt haben, die in der That in den königlichen Galerien ge- worden sind was sie sind, und in Farbe und Strich ihren Vor- bildern oft recht nahe gekommen sind. Jene Kritiker glaubten das X eines Künstlercharakters zu begreifen, indem sie eine Glei- chung aufstellten, deren Werthe aus mindestens einem halben Dutzend Namen der Vergangenheit bestanden. Heute ist der Eklekticismus möglichst discreditirt; aber die Theorie der Ein- flüsse ist um so beliebter, denn der mechanische Geist kann sich das Werden des Genies nur analog der Funktionsweise seines eigenen Kopfs vorstellen. In der That versetzen solche Studien, solche Berührungen mit grossen Genossen den wahren Künstler in jenes Spiel von Anziehungen und Abstossungen, wo im Kampf gegen deren mächtigen Einfluss (durch den die Nachahmer alles sind was sie sind) die Eigenart zum Dasein entbunden wird. Der fünfund- zwanzigjährige Murillo mag sich in den Sälen des Alcazar als Nichts vorgekommen sein; aber er sagte sich zugleich, wenn ihm durch ein Wunder ein Instrument gleich denen dieser Hochbe- gnadigten bescheert würde, dann würde er ganz andere Akkorde anschlagen, ein ganz neues Blatt den Annalen der Kunst hinzufügen. Man sehe ihre Bilder nebeneinander: Wollte man angeben wie unähnlich sie einander sind, man würde nicht zu Ende kommen. Wie weit ab liegt seine hochgestimmte Licht- und Farbenglut von dem kühlen Silberton seines Berathers! Wie wenig verwandt ist sein duftiges Chiaroscuro, seine offene helle Begeisterung der grimmigen, verschlossenen Leidenschaftlichkeit des Valencianers und dessen schroffen Gegensätzen, oder der trüben Weiner-

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/440>, abgerufen am 22.11.2024.