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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Viertes Buch.

Der Engel ist übrigens ein Bildniss. Die kurze grade Stirn,
die dünne eingezogene Nase, selbst der hohe Schopf und die
über die Ohren hervorgedrängten lockigen dichten Haare nach
damaligem Geschmack lassen daran keinen Zweifel. Aber das
gesenkte Auge, die wie dem Weinen nahe etwas vorgeschobenen
Lippen verrathen den bangen Druck des Augenblicks.

Dieser Blick ist fein empfunden. Das natürlichere wäre,
dass das Auge der zeigenden Hand folgte. Aber er scheut sich
selbst hinzusehen, damit der Schmerz nicht ausbreche.

In der Handzeichnungen-Sammlung des Instituto Asturiano
zu Gijon, einem Vermächtniss von Cean Bermudez an seine Va-
terstadt1), befindet sich eine Kohlenzeichnung, mit breiten Stri-
chen flüchtig skizzirt, welche eine Modellstudie ist zu diesem
Engel. (Nr. 410, 218 x 115 mm.) Stellung, Bewegung, Costüm
stimmen genau, nur hat die Hand das Kleid bis ans Knie herauf-
gezogen, und der Kopf ist anders. Das Modell hat kurzge-
schnittene Haare, der Hinterkopf ist hoch und eckig, die Nase
gerade, kein Ausdruck, die Hände blosse Umrisse. Da das Ge-
mälde in Spanien unbekannt war, auch die Zeichnung wenig
Anhalt zu einer Attribution giebt, so muss die Benennung auf
Grund alter Ueberlieferung gemacht sein. Das Costüm ist viel-
leicht der Figur eines Passionsspiels entlehnt. Sollte das kreuz-
weise Band zur Befestigung der Flügel gedient haben?

Vielleicht ist es ein Votivbild, geweiht von Eltern, die ihr
Söhnchen in der Andacht zum leidenden Heiland zu malen ge-
lobt hatten.

Sehr ungewöhnlich ist die Gestalt Christi. Selten ist selbst in
den der Nachahmung der Antike ergebenen Schulen ein körper-
lich mächtigerer Christus geschaffen worden. Man wird vielleicht
an den Christus der Minerva erinnert; aber hier ist der Eindruck
des Athletischen noch gesteigert durch den Kopf, der ganz ab-
weichend von dem Typus, breit und platt ist. Die kurze und
zurückliegende Stirn, mit starken Höckern am Augenbogen (sie
erscheint noch enger durch die über die Schläfen gestrichenen
dunklen gelockten Haare), erinnert an den griechischen Herakles;
dazu das starke Jochbein, die Wellenlinien von Nase und
Mund. Wie ein gewaltiger Kämpfer, ein Simson, überwältigt
von der Uebermacht, dessen Kraft allein dem Dulden so

1) Die Idee fasste er im Jahre 1782, der Grundstein wurde 1797 gelegt, es
war bestimmt für den Unterricht in den mathematischen Wissenschaften.
Viertes Buch.

Der Engel ist übrigens ein Bildniss. Die kurze grade Stirn,
die dünne eingezogene Nase, selbst der hohe Schopf und die
über die Ohren hervorgedrängten lockigen dichten Haare nach
damaligem Geschmack lassen daran keinen Zweifel. Aber das
gesenkte Auge, die wie dem Weinen nahe etwas vorgeschobenen
Lippen verrathen den bangen Druck des Augenblicks.

Dieser Blick ist fein empfunden. Das natürlichere wäre,
dass das Auge der zeigenden Hand folgte. Aber er scheut sich
selbst hinzusehen, damit der Schmerz nicht ausbreche.

In der Handzeichnungen-Sammlung des Instituto Asturiano
zu Gijon, einem Vermächtniss von Cean Bermudez an seine Va-
terstadt1), befindet sich eine Kohlenzeichnung, mit breiten Stri-
chen flüchtig skizzirt, welche eine Modellstudie ist zu diesem
Engel. (Nr. 410, 218 × 115 mm.) Stellung, Bewegung, Costüm
stimmen genau, nur hat die Hand das Kleid bis ans Knie herauf-
gezogen, und der Kopf ist anders. Das Modell hat kurzge-
schnittene Haare, der Hinterkopf ist hoch und eckig, die Nase
gerade, kein Ausdruck, die Hände blosse Umrisse. Da das Ge-
mälde in Spanien unbekannt war, auch die Zeichnung wenig
Anhalt zu einer Attribution giebt, so muss die Benennung auf
Grund alter Ueberlieferung gemacht sein. Das Costüm ist viel-
leicht der Figur eines Passionsspiels entlehnt. Sollte das kreuz-
weise Band zur Befestigung der Flügel gedient haben?

Vielleicht ist es ein Votivbild, geweiht von Eltern, die ihr
Söhnchen in der Andacht zum leidenden Heiland zu malen ge-
lobt hatten.

Sehr ungewöhnlich ist die Gestalt Christi. Selten ist selbst in
den der Nachahmung der Antike ergebenen Schulen ein körper-
lich mächtigerer Christus geschaffen worden. Man wird vielleicht
an den Christus der Minerva erinnert; aber hier ist der Eindruck
des Athletischen noch gesteigert durch den Kopf, der ganz ab-
weichend von dem Typus, breit und platt ist. Die kurze und
zurückliegende Stirn, mit starken Höckern am Augenbogen (sie
erscheint noch enger durch die über die Schläfen gestrichenen
dunklen gelockten Haare), erinnert an den griechischen Herakles;
dazu das starke Jochbein, die Wellenlinien von Nase und
Mund. Wie ein gewaltiger Kämpfer, ein Simson, überwältigt
von der Uebermacht, dessen Kraft allein dem Dulden so

1) Die Idee fasste er im Jahre 1782, der Grundstein wurde 1797 gelegt, es
war bestimmt für den Unterricht in den mathematischen Wissenschaften.
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[426/0454] Viertes Buch. Der Engel ist übrigens ein Bildniss. Die kurze grade Stirn, die dünne eingezogene Nase, selbst der hohe Schopf und die über die Ohren hervorgedrängten lockigen dichten Haare nach damaligem Geschmack lassen daran keinen Zweifel. Aber das gesenkte Auge, die wie dem Weinen nahe etwas vorgeschobenen Lippen verrathen den bangen Druck des Augenblicks. Dieser Blick ist fein empfunden. Das natürlichere wäre, dass das Auge der zeigenden Hand folgte. Aber er scheut sich selbst hinzusehen, damit der Schmerz nicht ausbreche. In der Handzeichnungen-Sammlung des Instituto Asturiano zu Gijon, einem Vermächtniss von Cean Bermudez an seine Va- terstadt 1), befindet sich eine Kohlenzeichnung, mit breiten Stri- chen flüchtig skizzirt, welche eine Modellstudie ist zu diesem Engel. (Nr. 410, 218 × 115 mm.) Stellung, Bewegung, Costüm stimmen genau, nur hat die Hand das Kleid bis ans Knie herauf- gezogen, und der Kopf ist anders. Das Modell hat kurzge- schnittene Haare, der Hinterkopf ist hoch und eckig, die Nase gerade, kein Ausdruck, die Hände blosse Umrisse. Da das Ge- mälde in Spanien unbekannt war, auch die Zeichnung wenig Anhalt zu einer Attribution giebt, so muss die Benennung auf Grund alter Ueberlieferung gemacht sein. Das Costüm ist viel- leicht der Figur eines Passionsspiels entlehnt. Sollte das kreuz- weise Band zur Befestigung der Flügel gedient haben? Vielleicht ist es ein Votivbild, geweiht von Eltern, die ihr Söhnchen in der Andacht zum leidenden Heiland zu malen ge- lobt hatten. Sehr ungewöhnlich ist die Gestalt Christi. Selten ist selbst in den der Nachahmung der Antike ergebenen Schulen ein körper- lich mächtigerer Christus geschaffen worden. Man wird vielleicht an den Christus der Minerva erinnert; aber hier ist der Eindruck des Athletischen noch gesteigert durch den Kopf, der ganz ab- weichend von dem Typus, breit und platt ist. Die kurze und zurückliegende Stirn, mit starken Höckern am Augenbogen (sie erscheint noch enger durch die über die Schläfen gestrichenen dunklen gelockten Haare), erinnert an den griechischen Herakles; dazu das starke Jochbein, die Wellenlinien von Nase und Mund. Wie ein gewaltiger Kämpfer, ein Simson, überwältigt von der Uebermacht, dessen Kraft allein dem Dulden so 1) Die Idee fasste er im Jahre 1782, der Grundstein wurde 1797 gelegt, es war bestimmt für den Unterricht in den mathematischen Wissenschaften.

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/454>, abgerufen am 22.11.2024.