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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Christus an der Säule.
unerhörter Qualen gewachsen ist. Vielleicht hatte der Maler in
Rom Studien gemacht an einer der Statuen aus der zweiten
attischen Schule, wie dem sogenannten Antinous (Hermes) des
Belvedere. Vielleicht wählte er solche Formen, weil ein uner-
träglicher Zustand, wo die Kraft bis nahe an die Grenze des Zu-
sammenbrechens in Anspruch genommen wird, bei augenschein-
lich ausserordentlicher Widerstandskraft weniger peinlich wirkt.

Das Gemälde muss in der mittlern Zeit gemalt sein;
manches führt auf den Anfang, anderes auf das Ende dieser zwei
Jahrzehnte. Die Modellirung des Nackten steht dem Vulcan
nicht fern; die Hände sind schon in der letzten skizzenhaften
Art modellirt, die Finger des Kindes z. B. mit verschieden ab-
getönten, unverschmolzenen, an den Spitzen ausfahrenden Stri-
chen; der rechte beschattete Fuss ist nur angedeutet. Bemerkens-
werth ist die sorgfältige Behandlung des verschiedenen, kräftigen
Haarschmucks der drei Köpfe.

Wenn der Gegenstand befremdlich ist, so erscheint dagegen
in Farbengefühl und Formenbehandlung die Eigenart des Mei-
sters selten so charakteristisch. Wer die alte Malerei nur aus
der Nationalgalerie kennte, würde hier den Eindruck einer gros-
sen, von allen andern völlig abgesonderten, in einem Unicum ver-
tretenen Schule haben. Es giebt wol kein Gemälde, das obwol
keineswegs farblos (das Braunorange und Stumpfkarmoisin des
Engelkostüms sind ihm eigenthümlich), in einem so entschieden
grauen, schwärzlich grauen Ton gemalt ist. Es ist als habe nach
dem Furchtbaren, das hier vorgegangen, die trauernde Natur,
wie nach einem Vulcanausbruch, einen feinen Aschenregen über
die Scene gestreut. Wie warm goldig, tizianisch erscheint dort
daneben das Nackte in der Pietas Ribera's; wie blühend Murillo!
aber beide auch in solcher Nachbarschaft fast konventionell. Man
sieht sich vergebens um, wo ein Arm gemalt wäre, wie die aufge-
streiften des Engels. Vielleicht in der Michelangelo zugeschriebe-
nen Grablegung; aber in unserem Bild ist bei gleicher Formenwahr-
heit, die Weiche, Geschmeidigkeit und der durchschimmernde Ton
einer jugendlichen Haut mehr beachtet. Diess Grau wird auch
in den für ihn sehr tiefen Schatten nie undurchsichtig. Die
Gesichtsfarbe Christi ist bläulich wie bei Erstickenden, die Horn-
haut blaugrau. Die nackten Formen sind mit breitem, vollem
Pinsel in grossen einfachen fliessenden Zügen über den wie
es scheint rothbraunen Grund (von dem keine Spur durchdringt)
impastirt, und die Schatten über den hellen Fleischton gelegt.

Christus an der Säule.
unerhörter Qualen gewachsen ist. Vielleicht hatte der Maler in
Rom Studien gemacht an einer der Statuen aus der zweiten
attischen Schule, wie dem sogenannten Antinous (Hermes) des
Belvedere. Vielleicht wählte er solche Formen, weil ein uner-
träglicher Zustand, wo die Kraft bis nahe an die Grenze des Zu-
sammenbrechens in Anspruch genommen wird, bei augenschein-
lich ausserordentlicher Widerstandskraft weniger peinlich wirkt.

Das Gemälde muss in der mittlern Zeit gemalt sein;
manches führt auf den Anfang, anderes auf das Ende dieser zwei
Jahrzehnte. Die Modellirung des Nackten steht dem Vulcan
nicht fern; die Hände sind schon in der letzten skizzenhaften
Art modellirt, die Finger des Kindes z. B. mit verschieden ab-
getönten, unverschmolzenen, an den Spitzen ausfahrenden Stri-
chen; der rechte beschattete Fuss ist nur angedeutet. Bemerkens-
werth ist die sorgfältige Behandlung des verschiedenen, kräftigen
Haarschmucks der drei Köpfe.

Wenn der Gegenstand befremdlich ist, so erscheint dagegen
in Farbengefühl und Formenbehandlung die Eigenart des Mei-
sters selten so charakteristisch. Wer die alte Malerei nur aus
der Nationalgalerie kennte, würde hier den Eindruck einer gros-
sen, von allen andern völlig abgesonderten, in einem Unicum ver-
tretenen Schule haben. Es giebt wol kein Gemälde, das obwol
keineswegs farblos (das Braunorange und Stumpfkarmoisin des
Engelkostüms sind ihm eigenthümlich), in einem so entschieden
grauen, schwärzlich grauen Ton gemalt ist. Es ist als habe nach
dem Furchtbaren, das hier vorgegangen, die trauernde Natur,
wie nach einem Vulcanausbruch, einen feinen Aschenregen über
die Scene gestreut. Wie warm goldig, tizianisch erscheint dort
daneben das Nackte in der Pietas Ribera’s; wie blühend Murillo!
aber beide auch in solcher Nachbarschaft fast konventionell. Man
sieht sich vergebens um, wo ein Arm gemalt wäre, wie die aufge-
streiften des Engels. Vielleicht in der Michelangelo zugeschriebe-
nen Grablegung; aber in unserem Bild ist bei gleicher Formenwahr-
heit, die Weiche, Geschmeidigkeit und der durchschimmernde Ton
einer jugendlichen Haut mehr beachtet. Diess Grau wird auch
in den für ihn sehr tiefen Schatten nie undurchsichtig. Die
Gesichtsfarbe Christi ist bläulich wie bei Erstickenden, die Horn-
haut blaugrau. Die nackten Formen sind mit breitem, vollem
Pinsel in grossen einfachen fliessenden Zügen über den wie
es scheint rothbraunen Grund (von dem keine Spur durchdringt)
impastirt, und die Schatten über den hellen Fleischton gelegt.

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[427/0455] Christus an der Säule. unerhörter Qualen gewachsen ist. Vielleicht hatte der Maler in Rom Studien gemacht an einer der Statuen aus der zweiten attischen Schule, wie dem sogenannten Antinous (Hermes) des Belvedere. Vielleicht wählte er solche Formen, weil ein uner- träglicher Zustand, wo die Kraft bis nahe an die Grenze des Zu- sammenbrechens in Anspruch genommen wird, bei augenschein- lich ausserordentlicher Widerstandskraft weniger peinlich wirkt. Das Gemälde muss in der mittlern Zeit gemalt sein; manches führt auf den Anfang, anderes auf das Ende dieser zwei Jahrzehnte. Die Modellirung des Nackten steht dem Vulcan nicht fern; die Hände sind schon in der letzten skizzenhaften Art modellirt, die Finger des Kindes z. B. mit verschieden ab- getönten, unverschmolzenen, an den Spitzen ausfahrenden Stri- chen; der rechte beschattete Fuss ist nur angedeutet. Bemerkens- werth ist die sorgfältige Behandlung des verschiedenen, kräftigen Haarschmucks der drei Köpfe. Wenn der Gegenstand befremdlich ist, so erscheint dagegen in Farbengefühl und Formenbehandlung die Eigenart des Mei- sters selten so charakteristisch. Wer die alte Malerei nur aus der Nationalgalerie kennte, würde hier den Eindruck einer gros- sen, von allen andern völlig abgesonderten, in einem Unicum ver- tretenen Schule haben. Es giebt wol kein Gemälde, das obwol keineswegs farblos (das Braunorange und Stumpfkarmoisin des Engelkostüms sind ihm eigenthümlich), in einem so entschieden grauen, schwärzlich grauen Ton gemalt ist. Es ist als habe nach dem Furchtbaren, das hier vorgegangen, die trauernde Natur, wie nach einem Vulcanausbruch, einen feinen Aschenregen über die Scene gestreut. Wie warm goldig, tizianisch erscheint dort daneben das Nackte in der Pietas Ribera’s; wie blühend Murillo! aber beide auch in solcher Nachbarschaft fast konventionell. Man sieht sich vergebens um, wo ein Arm gemalt wäre, wie die aufge- streiften des Engels. Vielleicht in der Michelangelo zugeschriebe- nen Grablegung; aber in unserem Bild ist bei gleicher Formenwahr- heit, die Weiche, Geschmeidigkeit und der durchschimmernde Ton einer jugendlichen Haut mehr beachtet. Diess Grau wird auch in den für ihn sehr tiefen Schatten nie undurchsichtig. Die Gesichtsfarbe Christi ist bläulich wie bei Erstickenden, die Horn- haut blaugrau. Die nackten Formen sind mit breitem, vollem Pinsel in grossen einfachen fliessenden Zügen über den wie es scheint rothbraunen Grund (von dem keine Spur durchdringt) impastirt, und die Schatten über den hellen Fleischton gelegt.

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/455>, abgerufen am 23.11.2024.