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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Erstes Buch.
1612, in der Galerie Lopez Cepero, bemerkt man den wärmeren
Ton, frischere Auffassung, sprechende Augen. Von dunkeler Hal-
tung ist das vieltafelige Altarwerk der Pfarrkirche zu Brenes
bei Carmona.

Er eröffnete nun eine Malerschule, und sein Haus begann
ein Sammelpunkt von Künstlern und Kunstfreunden zu werden,
besonders geistlichen, bis an sein Ende. "Sein Atelier, sagt Ro-
drigo Caro, war eine förmliche Akademie der Gebildetsten von
Sevilla und der Fremden."

Sein Selbstgefühl kannte keine Grenzen mehr, nun liess es
ihm keine Ruhe sich an dem bedenklichsten Vorwurfe der
Kirchenmalerei zu versuchen, dem Jüngsten Gericht. In seinem
Buch stehen vier Gutachten theologischer Sachverständigen über
dieses für die Nonnenkirche von S. Isabel für 700 Dukaten ge-
malte Bild (1614). Viele Abweichungen von der Ueberlieferung
hatte er angebracht; die heidnischen Figuren, welche das Werk
Bonarroti's entstellten, die mittelalterlich-phantastischen Zuthaten
(der Höllenrachen) waren ausgemerzt. Die Auseinandersetzungen
dieses Ceremonienmeisters des jüngsten Tags erinnern an Over-
beck, wenn er Sonntagmorgens über die Symbolik seiner Car-
tons den Gästen des Ateliers Homilien hielt. Lernend ist er ins
Grab gestiegen. Der Erzengel Michael (1637) in San Alberto
(nach der Revolution von 1868 nach London gebracht) fiel auf
durch die grosse Kraft der Farbe bei alter Härte des Pinsels1).
Er ist noch von dem aufgehenden Gestirn Murillo's Zeuge ge-
wesen: denn er starb 1654. Er erlebte also jenes Ereigniss: die
Offenbarung der heiligen Jungfrau in der Gestalt der wahren
Töchter seiner Nation. Ob er auch an dieser Freiheit Aergerniss
genommen hat? Die Purisima Pacheco's in dem Gemälde mit
dem Bildniss des Dichters Miguel Cid (Sacristei de los calices)
war wenigstens von der neuen Incarnation himmelweit verschie-
den: ein langes, langweiliges, hässliches, gedunsenes, schläfriges
Nonnengesicht.


1) F. Gonzalez de Leon, Noticia artistica de ... Sevilla. 1844. I, 167: so-
berbia pintura -- es del tamanno natural y se ve en ella gran fuerza de tintas y
dureza de pincel.

Erstes Buch.
1612, in der Galerie Lopez Cepero, bemerkt man den wärmeren
Ton, frischere Auffassung, sprechende Augen. Von dunkeler Hal-
tung ist das vieltafelige Altarwerk der Pfarrkirche zu Brenes
bei Carmona.

Er eröffnete nun eine Malerschule, und sein Haus begann
ein Sammelpunkt von Künstlern und Kunstfreunden zu werden,
besonders geistlichen, bis an sein Ende. „Sein Atelier, sagt Ro-
drigo Caro, war eine förmliche Akademie der Gebildetsten von
Sevilla und der Fremden.“

Sein Selbstgefühl kannte keine Grenzen mehr, nun liess es
ihm keine Ruhe sich an dem bedenklichsten Vorwurfe der
Kirchenmalerei zu versuchen, dem Jüngsten Gericht. In seinem
Buch stehen vier Gutachten theologischer Sachverständigen über
dieses für die Nonnenkirche von S. Isabel für 700 Dukaten ge-
malte Bild (1614). Viele Abweichungen von der Ueberlieferung
hatte er angebracht; die heidnischen Figuren, welche das Werk
Bonarroti’s entstellten, die mittelalterlich-phantastischen Zuthaten
(der Höllenrachen) waren ausgemerzt. Die Auseinandersetzungen
dieses Ceremonienmeisters des jüngsten Tags erinnern an Over-
beck, wenn er Sonntagmorgens über die Symbolik seiner Car-
tons den Gästen des Ateliers Homilien hielt. Lernend ist er ins
Grab gestiegen. Der Erzengel Michael (1637) in San Alberto
(nach der Revolution von 1868 nach London gebracht) fiel auf
durch die grosse Kraft der Farbe bei alter Härte des Pinsels1).
Er ist noch von dem aufgehenden Gestirn Murillo’s Zeuge ge-
wesen: denn er starb 1654. Er erlebte also jenes Ereigniss: die
Offenbarung der heiligen Jungfrau in der Gestalt der wahren
Töchter seiner Nation. Ob er auch an dieser Freiheit Aergerniss
genommen hat? Die Purisima Pacheco’s in dem Gemälde mit
dem Bildniss des Dichters Miguel Cid (Sacristei de los cálices)
war wenigstens von der neuen Incarnation himmelweit verschie-
den: ein langes, langweiliges, hässliches, gedunsenes, schläfriges
Nonnengesicht.


1) F. Gonzalez de Leon, Noticia artistica de … Sevilla. 1844. I, 167: so-
berbia pintura — es del tamaño natural y se vé en ella gran fuerza de tintas y
dureza de pincel.
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[68/0088] Erstes Buch. 1612, in der Galerie Lopez Cepero, bemerkt man den wärmeren Ton, frischere Auffassung, sprechende Augen. Von dunkeler Hal- tung ist das vieltafelige Altarwerk der Pfarrkirche zu Brenes bei Carmona. Er eröffnete nun eine Malerschule, und sein Haus begann ein Sammelpunkt von Künstlern und Kunstfreunden zu werden, besonders geistlichen, bis an sein Ende. „Sein Atelier, sagt Ro- drigo Caro, war eine förmliche Akademie der Gebildetsten von Sevilla und der Fremden.“ Sein Selbstgefühl kannte keine Grenzen mehr, nun liess es ihm keine Ruhe sich an dem bedenklichsten Vorwurfe der Kirchenmalerei zu versuchen, dem Jüngsten Gericht. In seinem Buch stehen vier Gutachten theologischer Sachverständigen über dieses für die Nonnenkirche von S. Isabel für 700 Dukaten ge- malte Bild (1614). Viele Abweichungen von der Ueberlieferung hatte er angebracht; die heidnischen Figuren, welche das Werk Bonarroti’s entstellten, die mittelalterlich-phantastischen Zuthaten (der Höllenrachen) waren ausgemerzt. Die Auseinandersetzungen dieses Ceremonienmeisters des jüngsten Tags erinnern an Over- beck, wenn er Sonntagmorgens über die Symbolik seiner Car- tons den Gästen des Ateliers Homilien hielt. Lernend ist er ins Grab gestiegen. Der Erzengel Michael (1637) in San Alberto (nach der Revolution von 1868 nach London gebracht) fiel auf durch die grosse Kraft der Farbe bei alter Härte des Pinsels 1). Er ist noch von dem aufgehenden Gestirn Murillo’s Zeuge ge- wesen: denn er starb 1654. Er erlebte also jenes Ereigniss: die Offenbarung der heiligen Jungfrau in der Gestalt der wahren Töchter seiner Nation. Ob er auch an dieser Freiheit Aergerniss genommen hat? Die Purisima Pacheco’s in dem Gemälde mit dem Bildniss des Dichters Miguel Cid (Sacristei de los cálices) war wenigstens von der neuen Incarnation himmelweit verschie- den: ein langes, langweiliges, hässliches, gedunsenes, schläfriges Nonnengesicht. 1) F. Gonzalez de Leon, Noticia artistica de … Sevilla. 1844. I, 167: so- berbia pintura — es del tamaño natural y se vé en ella gran fuerza de tintas y dureza de pincel.

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/88>, abgerufen am 26.11.2024.