Eilftes Kap. Reise von Famma matz bis zur Residenz Jedo.
Vorstadt anzusehen ist, nimt eine halbe Meile von Tsusuno moori ihren Anfang. Vor Sinagava fiel der Gerichtsplaz dem Vorbeireisenden gräslich in die Augen: Menschenköpfe und zerstümmelte Leiber lagen unter dem Aas des todten Viehes durch einander: ein großer magerer Hund wühlte mit seinem hungrigen Rachen in einem faulen Menschenkörper herum, und noch viele andere Hunde und Krähen saßen in der Nähe, um sich an dieser jederzeit freyen Tafel zu sättigen.
Ein durchfließender kleiner Strohm gab der Vorstadt Sinagava den Namen. Sie bestehet gröstentheils nur aus einer dicht bebaueten krummen Gasse, welche zur Rech- ten die See und zur Linken einen langen mit Tempeln besezten Hügel hat, wohin denn noch einige kurze Nebenstraßen abgehen. Es sind diese Tempel ziemlich gros, angenehm gele- gen, inwendig mit verguldeten Götzen, von außen mit ausgehauenen großen Bildern, hohen Pforten und steinernen Treppen, einer unter denselben auch mit einem viermal über einander gefachten Thurm geziert; bey dem allem aber kommen sie der Pracht unserer von Steinen erbaueten Christlichen Kirchen in Europa nicht bei. Beim Eingange der Stadt war an der linken Seite ein großer mit einer Mauer und vielen angebaueten Häusern um- gebener, vermuthlich Fürstlicher Hof. Nachdem wir drei viertel Meilen in Sinagava fortgeritten, traten wir in ein kleines an der See lustig gelegenes Wirthshaus ab, um uns sowol mit etwas zu erfrischen, als auch zum Einzug in Jedo uns anzuschicken. Man kon- te aus demselben die Stadt mit ihren hohen Gebäuden, auch den großen Hafen und die darin versamleten Schiffe und Fahrzeuge, etliche hundert an der Zahl, die kleinsten nahe an der Stadt und weiter davon nach Abtiefung des Grundes bis auf ein und zwei Meilen immer größere, ferner die wegen der Fläche des Wassers nicht näher vor Anker liegenden großen Barken und Kauffardeyschiffe sehen. So wie wir von dem Wirth verstanden, pflegten großer Herren und der Standspersonen Söhne aus Jedo seine Herberge wegen der schönen Aussicht öfters incognito zu besuchen.
Als wir uns demnach hierselbst an einer Japanischen Tafel erfrischet hatten, und unsere Pferde gehörig zurecht machen lassen, war eine Stunde verlaufen. Wir begaben uns nun auf den Weg. Der Bugjo verlies nunmehro seinen Norimon, und sezte sich zu Pferde, weil es einer Person von seinem Stande nicht erlaubt ist, in einem Norimon in die Hauptstadt zu kommen. Wir ritten also noch eine Viertel Meile durch die übrige Si- nagavische in die eigentliche und würkliche Vorgasse von Jedo; jene macht mit dieser, so zu sagen, eine aus, und nur ein schlechtes Wachthaus zeigt die Scheidung an. Die See sties alhier so nahe an, daß der Weg zur linken Hand unter dem jähen Berghügel kaum mit einer einzelnen nach der Krümme des Ufers sich ungleich herumziehenden Reihe von Häu- serchen bebauet war, die sich jedoch bald in verschiedene nicht weniger ungleiche Gassen von unabsehlicher Länge verdoppelte, bis wir nach einer halben Stunde Reitens eine bessere
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Eilftes Kap. Reiſe von Famma matz bis zur Reſidenz Jedo.
Vorſtadt anzuſehen iſt, nimt eine halbe Meile von Tſuſuno moori ihren Anfang. Vor Sinagava fiel der Gerichtsplaz dem Vorbeireiſenden graͤslich in die Augen: Menſchenkoͤpfe und zerſtuͤmmelte Leiber lagen unter dem Aas des todten Viehes durch einander: ein großer magerer Hund wuͤhlte mit ſeinem hungrigen Rachen in einem faulen Menſchenkoͤrper herum, und noch viele andere Hunde und Kraͤhen ſaßen in der Naͤhe, um ſich an dieſer jederzeit freyen Tafel zu ſaͤttigen.
Ein durchfließender kleiner Strohm gab der Vorſtadt Sinagava den Namen. Sie beſtehet groͤſtentheils nur aus einer dicht bebaueten krummen Gaſſe, welche zur Rech- ten die See und zur Linken einen langen mit Tempeln beſezten Huͤgel hat, wohin denn noch einige kurze Nebenſtraßen abgehen. Es ſind dieſe Tempel ziemlich gros, angenehm gele- gen, inwendig mit verguldeten Goͤtzen, von außen mit ausgehauenen großen Bildern, hohen Pforten und ſteinernen Treppen, einer unter denſelben auch mit einem viermal uͤber einander gefachten Thurm geziert; bey dem allem aber kommen ſie der Pracht unſerer von Steinen erbaueten Chriſtlichen Kirchen in Europa nicht bei. Beim Eingange der Stadt war an der linken Seite ein großer mit einer Mauer und vielen angebaueten Haͤuſern um- gebener, vermuthlich Fuͤrſtlicher Hof. Nachdem wir drei viertel Meilen in Sinagava fortgeritten, traten wir in ein kleines an der See luſtig gelegenes Wirthshaus ab, um uns ſowol mit etwas zu erfriſchen, als auch zum Einzug in Jedo uns anzuſchicken. Man kon- te aus demſelben die Stadt mit ihren hohen Gebaͤuden, auch den großen Hafen und die darin verſamleten Schiffe und Fahrzeuge, etliche hundert an der Zahl, die kleinſten nahe an der Stadt und weiter davon nach Abtiefung des Grundes bis auf ein und zwei Meilen immer groͤßere, ferner die wegen der Flaͤche des Waſſers nicht naͤher vor Anker liegenden großen Barken und Kauffardeyſchiffe ſehen. So wie wir von dem Wirth verſtanden, pflegten großer Herren und der Standsperſonen Soͤhne aus Jedo ſeine Herberge wegen der ſchoͤnen Ausſicht oͤfters incognito zu beſuchen.
Als wir uns demnach hierſelbſt an einer Japaniſchen Tafel erfriſchet hatten, und unſere Pferde gehoͤrig zurecht machen laſſen, war eine Stunde verlaufen. Wir begaben uns nun auf den Weg. Der Bugjo verlies nunmehro ſeinen Norimon, und ſezte ſich zu Pferde, weil es einer Perſon von ſeinem Stande nicht erlaubt iſt, in einem Norimon in die Hauptſtadt zu kommen. Wir ritten alſo noch eine Viertel Meile durch die uͤbrige Si- nagaviſche in die eigentliche und wuͤrkliche Vorgaſſe von Jedo; jene macht mit dieſer, ſo zu ſagen, eine aus, und nur ein ſchlechtes Wachthaus zeigt die Scheidung an. Die See ſties alhier ſo nahe an, daß der Weg zur linken Hand unter dem jaͤhen Berghuͤgel kaum mit einer einzelnen nach der Kruͤmme des Ufers ſich ungleich herumziehenden Reihe von Haͤu- ſerchen bebauet war, die ſich jedoch bald in verſchiedene nicht weniger ungleiche Gaſſen von unabſehlicher Laͤnge verdoppelte, bis wir nach einer halben Stunde Reitens eine beſſere
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Eilftes Kap. Reiſe von Famma matz bis zur Reſidenz Jedo.
Vorſtadt anzuſehen iſt, nimt eine halbe Meile von Tſuſuno moori ihren Anfang. Vor
Sinagava fiel der Gerichtsplaz dem Vorbeireiſenden graͤslich in die Augen: Menſchenkoͤpfe
und zerſtuͤmmelte Leiber lagen unter dem Aas des todten Viehes durch einander: ein großer
magerer Hund wuͤhlte mit ſeinem hungrigen Rachen in einem faulen Menſchenkoͤrper herum,
und noch viele andere Hunde und Kraͤhen ſaßen in der Naͤhe, um ſich an dieſer jederzeit
freyen Tafel zu ſaͤttigen.
Ein durchfließender kleiner Strohm gab der Vorſtadt Sinagava den Namen.
Sie beſtehet groͤſtentheils nur aus einer dicht bebaueten krummen Gaſſe, welche zur Rech-
ten die See und zur Linken einen langen mit Tempeln beſezten Huͤgel hat, wohin denn noch
einige kurze Nebenſtraßen abgehen. Es ſind dieſe Tempel ziemlich gros, angenehm gele-
gen, inwendig mit verguldeten Goͤtzen, von außen mit ausgehauenen großen Bildern,
hohen Pforten und ſteinernen Treppen, einer unter denſelben auch mit einem viermal uͤber
einander gefachten Thurm geziert; bey dem allem aber kommen ſie der Pracht unſerer von
Steinen erbaueten Chriſtlichen Kirchen in Europa nicht bei. Beim Eingange der Stadt
war an der linken Seite ein großer mit einer Mauer und vielen angebaueten Haͤuſern um-
gebener, vermuthlich Fuͤrſtlicher Hof. Nachdem wir drei viertel Meilen in Sinagava
fortgeritten, traten wir in ein kleines an der See luſtig gelegenes Wirthshaus ab, um uns
ſowol mit etwas zu erfriſchen, als auch zum Einzug in Jedo uns anzuſchicken. Man kon-
te aus demſelben die Stadt mit ihren hohen Gebaͤuden, auch den großen Hafen und die
darin verſamleten Schiffe und Fahrzeuge, etliche hundert an der Zahl, die kleinſten nahe
an der Stadt und weiter davon nach Abtiefung des Grundes bis auf ein und zwei Meilen
immer groͤßere, ferner die wegen der Flaͤche des Waſſers nicht naͤher vor Anker liegenden
großen Barken und Kauffardeyſchiffe ſehen. So wie wir von dem Wirth verſtanden,
pflegten großer Herren und der Standsperſonen Soͤhne aus Jedo ſeine Herberge wegen der
ſchoͤnen Ausſicht oͤfters incognito zu beſuchen.
Als wir uns demnach hierſelbſt an einer Japaniſchen Tafel erfriſchet hatten, und
unſere Pferde gehoͤrig zurecht machen laſſen, war eine Stunde verlaufen. Wir begaben
uns nun auf den Weg. Der Bugjo verlies nunmehro ſeinen Norimon, und ſezte ſich zu
Pferde, weil es einer Perſon von ſeinem Stande nicht erlaubt iſt, in einem Norimon in
die Hauptſtadt zu kommen. Wir ritten alſo noch eine Viertel Meile durch die uͤbrige Si-
nagaviſche in die eigentliche und wuͤrkliche Vorgaſſe von Jedo; jene macht mit dieſer, ſo zu
ſagen, eine aus, und nur ein ſchlechtes Wachthaus zeigt die Scheidung an. Die See
ſties alhier ſo nahe an, daß der Weg zur linken Hand unter dem jaͤhen Berghuͤgel kaum
mit einer einzelnen nach der Kruͤmme des Ufers ſich ungleich herumziehenden Reihe von Haͤu-
ſerchen bebauet war, die ſich jedoch bald in verſchiedene nicht weniger ungleiche Gaſſen von
unabſehlicher Laͤnge verdoppelte, bis wir nach einer halben Stunde Reitens eine beſſere
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Kaempfer, Engelbert: Geschichte und Beschreibung von Japan. Hrsg. v. Christian Wilhelm von Dohm. Bd. 2. Lemgo, 1779, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kaempfer_japan02_1779/303>, abgerufen am 16.06.2024.
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