Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. Königsberg u. a., 1755.

Bild:
<< vorherige Seite

und Theorie des Himmels.
Gleise in das Feld der Phantasie erlauben? Wer
zeiget uns die Grenze wo die gegründete Wahr-
scheinlichkeit aufhöret, und die willkührlichen Er-
dichtungen anheben? Wer ist so kühn, eine Be-
antwortung der Frage zu wagen: ob die Sünde
ihre Herrschaft auch in den andern Kugeln des
Weltbaues ausübe, oder ob die Tugend allein ihr
Regiment daselbst aufgeschlagen.

Die Sterne sind vielleicht ein Sitz verklär-
ter Geister,

Wie hier das Laster herrscht, ist dort die Tu-
gend Meister.

v. Haller.

Gehört nicht ein gewisser Mittelstand zwischen
der Weisheit und Unvernunft zu der unglückli-
chen Fähigkeit sündigen zu können. Wer weiß,
sind also die Bewohner jener entferneten Weltkör-
per nicht zu erhaben und zu weise, um sich bis zu
der Thorheit, die in der Sünde steckt, herabzulassen,
diejenigen aber, die in den unteren Planeten woh-
nen, zu fest an die Materie geheftet und mit gar
zu geringen Fähigkeiten des Geistes versehen, um
die Verantwortung ihrer Handlungen vor dem
Richterstuhle der Gerechtigkeit tragen zu dörfen?
Auf diese Weise wäre die Erde, und vielleicht noch
der Mars, (damit der elende Trost uns ja nicht
genommen werde, Gefährten des Unglücks zu ha-
ben,) allein in der gefährlichen Mittelstrasse, wo
die Versuchung der sinnlichen Reitzungen gegen die
Oberherrschaft des Geistes ein starkes Vermögen
zur Verleitung haben, dieser aber dennoch diejeni-
ge Fähigkeit nicht verleugnen kann, wodurch er

im
N 3

und Theorie des Himmels.
Gleiſe in das Feld der Phantaſie erlauben? Wer
zeiget uns die Grenze wo die gegruͤndete Wahr-
ſcheinlichkeit aufhoͤret, und die willkuͤhrlichen Er-
dichtungen anheben? Wer iſt ſo kuͤhn, eine Be-
antwortung der Frage zu wagen: ob die Suͤnde
ihre Herrſchaft auch in den andern Kugeln des
Weltbaues ausuͤbe, oder ob die Tugend allein ihr
Regiment daſelbſt aufgeſchlagen.

Die Sterne ſind vielleicht ein Sitz verklaͤr-
ter Geiſter,

Wie hier das Laſter herrſcht, iſt dort die Tu-
gend Meiſter.

v. Haller.

Gehoͤrt nicht ein gewiſſer Mittelſtand zwiſchen
der Weisheit und Unvernunft zu der ungluͤckli-
chen Faͤhigkeit ſuͤndigen zu koͤnnen. Wer weiß,
ſind alſo die Bewohner jener entferneten Weltkoͤr-
per nicht zu erhaben und zu weiſe, um ſich bis zu
der Thorheit, die in der Suͤnde ſteckt, herabzulaſſen,
diejenigen aber, die in den unteren Planeten woh-
nen, zu feſt an die Materie geheftet und mit gar
zu geringen Faͤhigkeiten des Geiſtes verſehen, um
die Verantwortung ihrer Handlungen vor dem
Richterſtuhle der Gerechtigkeit tragen zu doͤrfen?
Auf dieſe Weiſe waͤre die Erde, und vielleicht noch
der Mars, (damit der elende Troſt uns ja nicht
genommen werde, Gefaͤhrten des Ungluͤcks zu ha-
ben,) allein in der gefaͤhrlichen Mittelſtraſſe, wo
die Verſuchung der ſinnlichen Reitzungen gegen die
Oberherrſchaft des Geiſtes ein ſtarkes Vermoͤgen
zur Verleitung haben, dieſer aber dennoch diejeni-
ge Faͤhigkeit nicht verleugnen kann, wodurch er

im
N 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0265" n="197"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Theorie des Himmels.</hi></fw><lb/>
Glei&#x017F;e in das Feld der Phanta&#x017F;ie erlauben? Wer<lb/>
zeiget uns die Grenze wo die gegru&#x0364;ndete Wahr-<lb/>
&#x017F;cheinlichkeit aufho&#x0364;ret, und die willku&#x0364;hrlichen Er-<lb/>
dichtungen anheben? Wer i&#x017F;t &#x017F;o ku&#x0364;hn, eine Be-<lb/>
antwortung der Frage zu wagen: ob die Su&#x0364;nde<lb/>
ihre Herr&#x017F;chaft auch in den andern Kugeln des<lb/>
Weltbaues ausu&#x0364;be, oder ob die Tugend allein ihr<lb/>
Regiment da&#x017F;elb&#x017F;t aufge&#x017F;chlagen.</p><lb/>
          <cit>
            <quote>
              <lg type="poem">
                <l>Die Sterne &#x017F;ind vielleicht ein Sitz verkla&#x0364;r-<lb/><hi rendition="#et">ter Gei&#x017F;ter,</hi></l><lb/>
                <l>Wie hier das La&#x017F;ter herr&#x017F;cht, i&#x017F;t dort die Tu-<lb/><hi rendition="#et">gend Mei&#x017F;ter.</hi></l>
              </lg>
            </quote><lb/>
            <bibl> <hi rendition="#right">v. <hi rendition="#fr">Haller.</hi></hi> </bibl>
          </cit><lb/>
          <p>Geho&#x0364;rt nicht ein gewi&#x017F;&#x017F;er Mittel&#x017F;tand zwi&#x017F;chen<lb/>
der Weisheit und Unvernunft zu der unglu&#x0364;ckli-<lb/>
chen Fa&#x0364;higkeit &#x017F;u&#x0364;ndigen zu ko&#x0364;nnen. Wer weiß,<lb/>
&#x017F;ind al&#x017F;o die Bewohner jener entferneten Weltko&#x0364;r-<lb/>
per nicht zu erhaben und zu wei&#x017F;e, um &#x017F;ich bis zu<lb/>
der Thorheit, die in der Su&#x0364;nde &#x017F;teckt, herabzula&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
diejenigen aber, die in den unteren Planeten woh-<lb/>
nen, zu fe&#x017F;t an die Materie geheftet und mit gar<lb/>
zu geringen Fa&#x0364;higkeiten des Gei&#x017F;tes ver&#x017F;ehen, um<lb/>
die Verantwortung ihrer Handlungen vor dem<lb/>
Richter&#x017F;tuhle der Gerechtigkeit tragen zu do&#x0364;rfen?<lb/>
Auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e wa&#x0364;re die Erde, und vielleicht noch<lb/>
der Mars, (damit der elende Tro&#x017F;t uns ja nicht<lb/>
genommen werde, Gefa&#x0364;hrten des Unglu&#x0364;cks zu ha-<lb/>
ben,) allein in der gefa&#x0364;hrlichen Mittel&#x017F;tra&#x017F;&#x017F;e, wo<lb/>
die Ver&#x017F;uchung der &#x017F;innlichen Reitzungen gegen die<lb/>
Oberherr&#x017F;chaft des Gei&#x017F;tes ein &#x017F;tarkes Vermo&#x0364;gen<lb/>
zur Verleitung haben, die&#x017F;er aber dennoch diejeni-<lb/>
ge Fa&#x0364;higkeit nicht verleugnen kann, wodurch er<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">N 3</fw><fw place="bottom" type="catch">im</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[197/0265] und Theorie des Himmels. Gleiſe in das Feld der Phantaſie erlauben? Wer zeiget uns die Grenze wo die gegruͤndete Wahr- ſcheinlichkeit aufhoͤret, und die willkuͤhrlichen Er- dichtungen anheben? Wer iſt ſo kuͤhn, eine Be- antwortung der Frage zu wagen: ob die Suͤnde ihre Herrſchaft auch in den andern Kugeln des Weltbaues ausuͤbe, oder ob die Tugend allein ihr Regiment daſelbſt aufgeſchlagen. Die Sterne ſind vielleicht ein Sitz verklaͤr- ter Geiſter, Wie hier das Laſter herrſcht, iſt dort die Tu- gend Meiſter. v. Haller. Gehoͤrt nicht ein gewiſſer Mittelſtand zwiſchen der Weisheit und Unvernunft zu der ungluͤckli- chen Faͤhigkeit ſuͤndigen zu koͤnnen. Wer weiß, ſind alſo die Bewohner jener entferneten Weltkoͤr- per nicht zu erhaben und zu weiſe, um ſich bis zu der Thorheit, die in der Suͤnde ſteckt, herabzulaſſen, diejenigen aber, die in den unteren Planeten woh- nen, zu feſt an die Materie geheftet und mit gar zu geringen Faͤhigkeiten des Geiſtes verſehen, um die Verantwortung ihrer Handlungen vor dem Richterſtuhle der Gerechtigkeit tragen zu doͤrfen? Auf dieſe Weiſe waͤre die Erde, und vielleicht noch der Mars, (damit der elende Troſt uns ja nicht genommen werde, Gefaͤhrten des Ungluͤcks zu ha- ben,) allein in der gefaͤhrlichen Mittelſtraſſe, wo die Verſuchung der ſinnlichen Reitzungen gegen die Oberherrſchaft des Geiſtes ein ſtarkes Vermoͤgen zur Verleitung haben, dieſer aber dennoch diejeni- ge Faͤhigkeit nicht verleugnen kann, wodurch er im N 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_naturgeschichte_1755
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_naturgeschichte_1755/265
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. Königsberg u. a., 1755, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_naturgeschichte_1755/265>, abgerufen am 21.11.2024.