Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.I. Th. II. B. II. Hauptst. Von der Dialectik Identität, diese der Causalität betrachtet wird. DieVerknüpfung der Tugend mit der Glückseligkeit kann also entweder so verstanden werden, daß die Bestrebung tugendhaft zu seyn und die vernünftige Bewerbung um Glückseligkeit nicht zwey verschiedene, sondern ganz identische Handlungen wären, da denn der ersteren keine andere Maxime, als zu der letztern zum Grunde gelegt zu werden brauchte: oder jene Verknüpfung wird dar- auf ausgesetzt, daß Tugend die Glückseligkeit als etwas von dem Bewußtseyn der ersteren unterschiedenes, wie die Ursache eine Wirkung, hervorbringe. Von den alten griechischen Schulen waren eigent- Man
I. Th. II. B. II. Hauptſt. Von der Dialectik Identitaͤt, dieſe der Cauſalitaͤt betrachtet wird. DieVerknuͤpfung der Tugend mit der Gluͤckſeligkeit kann alſo entweder ſo verſtanden werden, daß die Beſtrebung tugendhaft zu ſeyn und die vernuͤnftige Bewerbung um Gluͤckſeligkeit nicht zwey verſchiedene, ſondern ganz identiſche Handlungen waͤren, da denn der erſteren keine andere Maxime, als zu der letztern zum Grunde gelegt zu werden brauchte: oder jene Verknuͤpfung wird dar- auf ausgeſetzt, daß Tugend die Gluͤckſeligkeit als etwas von dem Bewußtſeyn der erſteren unterſchiedenes, wie die Urſache eine Wirkung, hervorbringe. Von den alten griechiſchen Schulen waren eigent- Man
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I. Th. II. B. II. Hauptſt. Von der Dialectik
Identitaͤt, dieſe der Cauſalitaͤt betrachtet wird. Die
Verknuͤpfung der Tugend mit der Gluͤckſeligkeit kann
alſo entweder ſo verſtanden werden, daß die Beſtrebung
tugendhaft zu ſeyn und die vernuͤnftige Bewerbung um
Gluͤckſeligkeit nicht zwey verſchiedene, ſondern ganz
identiſche Handlungen waͤren, da denn der erſteren keine
andere Maxime, als zu der letztern zum Grunde gelegt
zu werden brauchte: oder jene Verknuͤpfung wird dar-
auf ausgeſetzt, daß Tugend die Gluͤckſeligkeit als etwas
von dem Bewußtſeyn der erſteren unterſchiedenes, wie
die Urſache eine Wirkung, hervorbringe.
Von den alten griechiſchen Schulen waren eigent-
lich nur zwey, die in Beſtimmung des Begriffs vom
hoͤchſten Gute ſo fern zwar einerley Methode befolg-
ten, daß ſie Tugend und Gluͤckſeligkeit nicht als zwey
verſchiedene Elemente des hoͤchſten Guts gelten ließen,
mithin die Einheit des Princips nach der Regel der
Identitaͤt ſuchten; aber darin ſchieden ſie ſich wiederum,
daß ſie unter beiden den Grundbegriff verſchiedentlich
waͤhlten. Der Epicuraͤer ſagte: ſich ſeiner auf Gluͤck-
ſeligkeit fuͤhrenden Maxime bewußt ſeyn, das iſt Tu-
gend; der Stoiker: ſich ſeiner Tugend bewußt ſeyn, iſt
Gluͤckſeligkeit. Dem erſtern war Klugheit ſo viel als
Sittlichkeit; dem zweyten, der eine hoͤhere Benennung
fuͤr die Tugend waͤhlete, war Sittlichkeit allein wahre
Weisheit.
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Zitationshilfe: | Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/208>, abgerufen am 16.07.2024. |