Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.I. Th. II. B. II. Hauptst. Von der Dialectik diesem Stücke einen Begriff des höchsten Guts (desReichs Gottes), der allein der strengsten Foderung der practi- Uebertretung des sittlichen Gesetzes unterworfen ist. Dieses
alles aber konnten sie nicht thun, wenn sie sich dieses Gesetz in der Reinigkeit und Strenge, als es die Vorschrift des Evange- lii thut, vorgestellt hätten. Wenn ich unter einer Idee eine Vollkommenheit verstehe, der nichts in der Erfahrung adäquat gegeben werden kann, so sind die moralischen Ideen darum nichts Ueberschwengliches, d. i. dergleichen, wovon wir auch nicht einmal den Begriff hinreichend bestimmen könnten, oder von dem es ungewiß ist, ob ihm überall ein Gegenstand correspon- dire, wie die Ideen der speculativen Vernunft, sondern dienen, als Urbilder der practischen Vollkommenheit, zur unentbehrli- chen Richtschnur des sittlichen Verhaltens, und zugleich zum Maaßstabe der Vergleichung. Wenn ich nun die christliche Moral von ihrer philosophischen Seite betrachte, so würde sie, mit den Ideen der griechischen Schulen verglichen, so erschei- nen: Die Ideen der Cyniker, der Spicuräer, der Stoiker und des Christen, sind: die Natureinfalt, die Klugheit, die Weisheit und die Heiligkeit. In Ansehung des Weges, dazu zu gelangen, unterschieden sich die griechischen Philosophen so von einander, daß die Cyniker dazu den gemeinen Menschen- verstand, die andern nur den Weg der Wissenschaft, beide also doch bloßen Gebrauch der natürlichen Kräfte dazu hinreichend fanden. Die christliche Moral, weil sie ihre Vor- schrift (wie es auch seyn muß) so rein und unnachsichtlich ein- richtet, benimmt dem Menschen das Zutrauen, wenigstens hier im Leben, ihr völlig adäquat zu seyn, richtet es aber doch auch dadurch wiederum auf, daß, wenn wir so gut handeln, als in unserem Vermögen ist, wir hoffen können, daß, was nicht in unserm Vermögen ist, uns anderweitig werde zu statten kom- men, wir mögen nun wissen, auf welche Art, oder nicht. Ari- stoteles und Plato unterschieden sich nur in Ansehung des Ur- sprungs unserer sittlichen Begriffe. I. Th. II. B. II. Hauptſt. Von der Dialectik dieſem Stuͤcke einen Begriff des hoͤchſten Guts (desReichs Gottes), der allein der ſtrengſten Foderung der practi- Uebertretung des ſittlichen Geſetzes unterworfen iſt. Dieſes
alles aber konnten ſie nicht thun, wenn ſie ſich dieſes Geſetz in der Reinigkeit und Strenge, als es die Vorſchrift des Evange- lii thut, vorgeſtellt haͤtten. Wenn ich unter einer Idee eine Vollkommenheit verſtehe, der nichts in der Erfahrung adaͤquat gegeben werden kann, ſo ſind die moraliſchen Ideen darum nichts Ueberſchwengliches, d. i. dergleichen, wovon wir auch nicht einmal den Begriff hinreichend beſtimmen koͤnnten, oder von dem es ungewiß iſt, ob ihm uͤberall ein Gegenſtand correſpon- dire, wie die Ideen der ſpeculativen Vernunft, ſondern dienen, als Urbilder der practiſchen Vollkommenheit, zur unentbehrli- chen Richtſchnur des ſittlichen Verhaltens, und zugleich zum Maaßſtabe der Vergleichung. Wenn ich nun die chriſtliche Moral von ihrer philoſophiſchen Seite betrachte, ſo wuͤrde ſie, mit den Ideen der griechiſchen Schulen verglichen, ſo erſchei- nen: Die Ideen der Cyniker, der Spicuraͤer, der Stoiker und des Chriſten, ſind: die Natureinfalt, die Klugheit, die Weisheit und die Heiligkeit. In Anſehung des Weges, dazu zu gelangen, unterſchieden ſich die griechiſchen Philoſophen ſo von einander, daß die Cyniker dazu den gemeinen Menſchen- verſtand, die andern nur den Weg der Wiſſenſchaft, beide alſo doch bloßen Gebrauch der natuͤrlichen Kraͤfte dazu hinreichend fanden. Die chriſtliche Moral, weil ſie ihre Vor- ſchrift (wie es auch ſeyn muß) ſo rein und unnachſichtlich ein- richtet, benimmt dem Menſchen das Zutrauen, wenigſtens hier im Leben, ihr voͤllig adaͤquat zu ſeyn, richtet es aber doch auch dadurch wiederum auf, daß, wenn wir ſo gut handeln, als in unſerem Vermoͤgen iſt, wir hoffen koͤnnen, daß, was nicht in unſerm Vermoͤgen iſt, uns anderweitig werde zu ſtatten kom- men, wir moͤgen nun wiſſen, auf welche Art, oder nicht. Ari- ſtoteles und Plato unterſchieden ſich nur in Anſehung des Ur- ſprungs unſerer ſittlichen Begriffe. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0238" n="230"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Th. <hi rendition="#aq">II.</hi> B. <hi rendition="#aq">II.</hi> Hauptſt. 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I. Th. II. B. II. Hauptſt. Von der Dialectik
dieſem Stuͤcke einen Begriff des hoͤchſten Guts (des
Reichs Gottes), der allein der ſtrengſten Foderung der
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*) Uebertretung des ſittlichen Geſetzes unterworfen iſt. Dieſes
alles aber konnten ſie nicht thun, wenn ſie ſich dieſes Geſetz in
der Reinigkeit und Strenge, als es die Vorſchrift des Evange-
lii thut, vorgeſtellt haͤtten. Wenn ich unter einer Idee eine
Vollkommenheit verſtehe, der nichts in der Erfahrung adaͤquat
gegeben werden kann, ſo ſind die moraliſchen Ideen darum
nichts Ueberſchwengliches, d. i. dergleichen, wovon wir auch nicht
einmal den Begriff hinreichend beſtimmen koͤnnten, oder von
dem es ungewiß iſt, ob ihm uͤberall ein Gegenſtand correſpon-
dire, wie die Ideen der ſpeculativen Vernunft, ſondern dienen,
als Urbilder der practiſchen Vollkommenheit, zur unentbehrli-
chen Richtſchnur des ſittlichen Verhaltens, und zugleich zum
Maaßſtabe der Vergleichung. Wenn ich nun die chriſtliche
Moral von ihrer philoſophiſchen Seite betrachte, ſo wuͤrde ſie,
mit den Ideen der griechiſchen Schulen verglichen, ſo erſchei-
nen: Die Ideen der Cyniker, der Spicuraͤer, der Stoiker und
des Chriſten, ſind: die Natureinfalt, die Klugheit, die
Weisheit und die Heiligkeit. In Anſehung des Weges, dazu
zu gelangen, unterſchieden ſich die griechiſchen Philoſophen ſo
von einander, daß die Cyniker dazu den gemeinen Menſchen-
verſtand, die andern nur den Weg der Wiſſenſchaft, beide
alſo doch bloßen Gebrauch der natuͤrlichen Kraͤfte dazu
hinreichend fanden. Die chriſtliche Moral, weil ſie ihre Vor-
ſchrift (wie es auch ſeyn muß) ſo rein und unnachſichtlich ein-
richtet, benimmt dem Menſchen das Zutrauen, wenigſtens hier
im Leben, ihr voͤllig adaͤquat zu ſeyn, richtet es aber doch auch
dadurch wiederum auf, daß, wenn wir ſo gut handeln, als in
unſerem Vermoͤgen iſt, wir hoffen koͤnnen, daß, was nicht in
unſerm Vermoͤgen iſt, uns anderweitig werde zu ſtatten kom-
men, wir moͤgen nun wiſſen, auf welche Art, oder nicht. Ari-
ſtoteles und Plato unterſchieden ſich nur in Anſehung des Ur-
ſprungs unſerer ſittlichen Begriffe.
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