Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.der rein. Vern. in Best. des Begr. vom höchst. Gut. practischen Vernunft ein Gnüge thut. Das moralischeGesetz ist heilig (unnachsichtlich) und fodert Heiligkeit der Sitten, obgleich alle moralische Vollkommenheit, zu welcher der Mensch gelangen kann, immer nur Tu- gend ist, d. i. gesetzmäßige Gesinnung aus Achtung fürs Gesetz, folglich Bewußtseyn eines continuirlichen Han- ges zur Uebertretung, wenigstens Unlauterkeit d. i. Bey- mischung vieler unächter (nicht moralischer) Bewegungs- gründe zur Befolgung des Gesetzes, folglich eine mit Demuth verbundene Selbstschätzung, und also in Anse- hung der Heiligkeit, welche das christliche Gesetz fodert, nichts als Fortschritt ins Unendliche dem Geschöpfe übrig läßt, eben daher aber auch dasselbe zur Hoffnung seiner ins Unendliche gehenden Fortdauer berechtigt. Der Werth einer dem moralischen Gesetze völlig angemesse- nen Gesinnung ist unendlich; weil alle mögliche Glück- seligkeit, im Urtheile eines weisen und alles vermögen- den Austheilers derselben, keine andere Einschränkung hat, als den Mangel der Angemessenheit vernünftiger Wesen an ihrer Pflicht. Aber das moralische Gesetz für sich verheißt doch keine Glückseligkeit; denn diese ist, nach Begriffen von einer Naturordnung überhaupt, mit der Befolgung desselben nicht nothwendig verbunden. Die christliche Sittenlehre ergänzt nun diesen Mangel (des zweyten unentbehrlichen Bestandstücks des höchsten Guts) durch die Darstellung der Welt, darin vernünf- tige Wesen sich dem sittlichen Gesetze von ganzer Seele wei- P 4
der rein. Vern. in Beſt. des Begr. vom hoͤchſt. Gut. practiſchen Vernunft ein Gnuͤge thut. Das moraliſcheGeſetz iſt heilig (unnachſichtlich) und fodert Heiligkeit der Sitten, obgleich alle moraliſche Vollkommenheit, zu welcher der Menſch gelangen kann, immer nur Tu- gend iſt, d. i. geſetzmaͤßige Geſinnung aus Achtung fuͤrs Geſetz, folglich Bewußtſeyn eines continuirlichen Han- ges zur Uebertretung, wenigſtens Unlauterkeit d. i. Bey- miſchung vieler unaͤchter (nicht moraliſcher) Bewegungs- gruͤnde zur Befolgung des Geſetzes, folglich eine mit Demuth verbundene Selbſtſchaͤtzung, und alſo in Anſe- hung der Heiligkeit, welche das chriſtliche Geſetz fodert, nichts als Fortſchritt ins Unendliche dem Geſchoͤpfe uͤbrig laͤßt, eben daher aber auch daſſelbe zur Hoffnung ſeiner ins Unendliche gehenden Fortdauer berechtigt. Der Werth einer dem moraliſchen Geſetze voͤllig angemeſſe- nen Geſinnung iſt unendlich; weil alle moͤgliche Gluͤck- ſeligkeit, im Urtheile eines weiſen und alles vermoͤgen- den Austheilers derſelben, keine andere Einſchraͤnkung hat, als den Mangel der Angemeſſenheit vernuͤnftiger Weſen an ihrer Pflicht. Aber das moraliſche Geſetz fuͤr ſich verheißt doch keine Gluͤckſeligkeit; denn dieſe iſt, nach Begriffen von einer Naturordnung uͤberhaupt, mit der Befolgung deſſelben nicht nothwendig verbunden. Die chriſtliche Sittenlehre ergaͤnzt nun dieſen Mangel (des zweyten unentbehrlichen Beſtandſtuͤcks des hoͤchſten Guts) durch die Darſtellung der Welt, darin vernuͤnf- tige Weſen ſich dem ſittlichen Geſetze von ganzer Seele wei- P 4
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0239" n="231"/><fw place="top" type="header">der rein. Vern. in Beſt. des Begr. vom hoͤchſt. Gut.</fw><lb/> practiſchen Vernunft ein Gnuͤge thut. Das moraliſche<lb/> Geſetz iſt heilig (unnachſichtlich) und fodert Heiligkeit<lb/> der Sitten, obgleich alle moraliſche Vollkommenheit,<lb/> zu welcher der Menſch gelangen kann, immer nur Tu-<lb/> gend iſt, d. i. geſetzmaͤßige Geſinnung aus <hi rendition="#fr">Achtung</hi> fuͤrs<lb/> Geſetz, folglich Bewußtſeyn eines continuirlichen Han-<lb/> ges zur Uebertretung, wenigſtens Unlauterkeit d. i. Bey-<lb/> miſchung vieler unaͤchter (nicht moraliſcher) Bewegungs-<lb/> gruͤnde zur Befolgung des Geſetzes, folglich eine mit<lb/> Demuth verbundene Selbſtſchaͤtzung, und alſo in Anſe-<lb/> hung der Heiligkeit, welche das chriſtliche Geſetz fodert,<lb/> nichts als Fortſchritt ins Unendliche dem Geſchoͤpfe uͤbrig<lb/> laͤßt, eben daher aber auch daſſelbe zur Hoffnung ſeiner<lb/> ins Unendliche gehenden Fortdauer berechtigt. Der<lb/><hi rendition="#fr">Werth</hi> einer dem moraliſchen Geſetze <hi rendition="#fr">voͤllig</hi> angemeſſe-<lb/> nen Geſinnung iſt unendlich; weil alle moͤgliche Gluͤck-<lb/> ſeligkeit, im Urtheile eines weiſen und alles vermoͤgen-<lb/> den Austheilers derſelben, keine andere Einſchraͤnkung<lb/> hat, als den Mangel der Angemeſſenheit vernuͤnftiger<lb/> Weſen an ihrer Pflicht. Aber das moraliſche Geſetz<lb/> fuͤr ſich verheißt doch keine Gluͤckſeligkeit; denn dieſe iſt,<lb/> nach Begriffen von einer Naturordnung uͤberhaupt, mit<lb/> der Befolgung deſſelben nicht nothwendig verbunden.<lb/> Die chriſtliche Sittenlehre ergaͤnzt nun dieſen Mangel<lb/> (des zweyten unentbehrlichen Beſtandſtuͤcks des hoͤchſten<lb/> Guts) durch die Darſtellung der Welt, darin vernuͤnf-<lb/> tige Weſen ſich dem ſittlichen Geſetze von ganzer Seele<lb/> <fw place="bottom" type="sig">P 4</fw><fw place="bottom" type="catch">wei-</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [231/0239]
der rein. Vern. in Beſt. des Begr. vom hoͤchſt. Gut.
practiſchen Vernunft ein Gnuͤge thut. Das moraliſche
Geſetz iſt heilig (unnachſichtlich) und fodert Heiligkeit
der Sitten, obgleich alle moraliſche Vollkommenheit,
zu welcher der Menſch gelangen kann, immer nur Tu-
gend iſt, d. i. geſetzmaͤßige Geſinnung aus Achtung fuͤrs
Geſetz, folglich Bewußtſeyn eines continuirlichen Han-
ges zur Uebertretung, wenigſtens Unlauterkeit d. i. Bey-
miſchung vieler unaͤchter (nicht moraliſcher) Bewegungs-
gruͤnde zur Befolgung des Geſetzes, folglich eine mit
Demuth verbundene Selbſtſchaͤtzung, und alſo in Anſe-
hung der Heiligkeit, welche das chriſtliche Geſetz fodert,
nichts als Fortſchritt ins Unendliche dem Geſchoͤpfe uͤbrig
laͤßt, eben daher aber auch daſſelbe zur Hoffnung ſeiner
ins Unendliche gehenden Fortdauer berechtigt. Der
Werth einer dem moraliſchen Geſetze voͤllig angemeſſe-
nen Geſinnung iſt unendlich; weil alle moͤgliche Gluͤck-
ſeligkeit, im Urtheile eines weiſen und alles vermoͤgen-
den Austheilers derſelben, keine andere Einſchraͤnkung
hat, als den Mangel der Angemeſſenheit vernuͤnftiger
Weſen an ihrer Pflicht. Aber das moraliſche Geſetz
fuͤr ſich verheißt doch keine Gluͤckſeligkeit; denn dieſe iſt,
nach Begriffen von einer Naturordnung uͤberhaupt, mit
der Befolgung deſſelben nicht nothwendig verbunden.
Die chriſtliche Sittenlehre ergaͤnzt nun dieſen Mangel
(des zweyten unentbehrlichen Beſtandſtuͤcks des hoͤchſten
Guts) durch die Darſtellung der Welt, darin vernuͤnf-
tige Weſen ſich dem ſittlichen Geſetze von ganzer Seele
wei-
P 4
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |