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Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

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der rein. Vern. in Best. des Begr. vom höchst. Gut.

Wenn man in der Geschichte der griechischen Phi-
losophie über den Anaxagoras hinaus keine deutliche
Spuren einer reinen Vernunfttheologie antrifft, so ist der
Grund nicht darin gelegen, daß es den älteren Philo-
sophen an Verstande und Einsicht fehlte, um durch den
Weg der Speculation, wenigstens mit Beyhülfe einer
ganz vernünftigen Hypothese, sich dahin zu erheben;
was konnte leichter, was natürlicher seyn, als der sich
von selbst jedermann darbietende Gedanke, statt unbe-
stimmter Grade der Vollkommenheit verschiedener Welt-
ursachen, eine einzige vernünftige anzunehmen, die al-
le Vollkommenheit
hat? Aber die Uebel in der Welt
schienen ihnen viel zu wichtige Einwürfe zu seyn, um
zu einer solchen Hypothese sich für berechtigt zu halten.
Mithin zeigten sie darin eben Verstand und Einsicht, daß
sie sich jene nicht erlaubten, und vielmehr in den Natur-
ursachen herum suchten, ob sie unter ihnen nicht die zu
Urwesen erfoderliche Beschaffenheit und Vermögen an-
treffen möchten. Aber nachdem dieses scharfsinnige
Volk so weit in Nachforschungen fortgerückt war, selbst
sittliche Gegenstände, darüber andere Völker niemals
mehr als geschwatzt haben, philosophisch zu behandeln:
da fanden sie allererst ein neues Bedürfniß, nemlich ein
practisches, welches nicht ermangelte ihnen den Begriff
des Urwesens bestimmt anzugeben, wobey die speculati-
ve
Vernunft das Zusehen hatte, höchstens noch das
Verdienst, einen Begriff, der nicht auf ihrem Boden er-

wach-
der rein. Vern. in Beſt. des Begr. vom hoͤchſt. Gut.

Wenn man in der Geſchichte der griechiſchen Phi-
loſophie uͤber den Anaxagoras hinaus keine deutliche
Spuren einer reinen Vernunfttheologie antrifft, ſo iſt der
Grund nicht darin gelegen, daß es den aͤlteren Philo-
ſophen an Verſtande und Einſicht fehlte, um durch den
Weg der Speculation, wenigſtens mit Beyhuͤlfe einer
ganz vernuͤnftigen Hypotheſe, ſich dahin zu erheben;
was konnte leichter, was natuͤrlicher ſeyn, als der ſich
von ſelbſt jedermann darbietende Gedanke, ſtatt unbe-
ſtimmter Grade der Vollkommenheit verſchiedener Welt-
urſachen, eine einzige vernuͤnftige anzunehmen, die al-
le Vollkommenheit
hat? Aber die Uebel in der Welt
ſchienen ihnen viel zu wichtige Einwuͤrfe zu ſeyn, um
zu einer ſolchen Hypotheſe ſich fuͤr berechtigt zu halten.
Mithin zeigten ſie darin eben Verſtand und Einſicht, daß
ſie ſich jene nicht erlaubten, und vielmehr in den Natur-
urſachen herum ſuchten, ob ſie unter ihnen nicht die zu
Urweſen erfoderliche Beſchaffenheit und Vermoͤgen an-
treffen moͤchten. Aber nachdem dieſes ſcharfſinnige
Volk ſo weit in Nachforſchungen fortgeruͤckt war, ſelbſt
ſittliche Gegenſtaͤnde, daruͤber andere Voͤlker niemals
mehr als geſchwatzt haben, philoſophiſch zu behandeln:
da fanden ſie allererſt ein neues Beduͤrfniß, nemlich ein
practiſches, welches nicht ermangelte ihnen den Begriff
des Urweſens beſtimmt anzugeben, wobey die ſpeculati-
ve
Vernunft das Zuſehen hatte, hoͤchſtens noch das
Verdienſt, einen Begriff, der nicht auf ihrem Boden er-

wach-
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[253/0261] der rein. Vern. in Beſt. des Begr. vom hoͤchſt. Gut. Wenn man in der Geſchichte der griechiſchen Phi- loſophie uͤber den Anaxagoras hinaus keine deutliche Spuren einer reinen Vernunfttheologie antrifft, ſo iſt der Grund nicht darin gelegen, daß es den aͤlteren Philo- ſophen an Verſtande und Einſicht fehlte, um durch den Weg der Speculation, wenigſtens mit Beyhuͤlfe einer ganz vernuͤnftigen Hypotheſe, ſich dahin zu erheben; was konnte leichter, was natuͤrlicher ſeyn, als der ſich von ſelbſt jedermann darbietende Gedanke, ſtatt unbe- ſtimmter Grade der Vollkommenheit verſchiedener Welt- urſachen, eine einzige vernuͤnftige anzunehmen, die al- le Vollkommenheit hat? Aber die Uebel in der Welt ſchienen ihnen viel zu wichtige Einwuͤrfe zu ſeyn, um zu einer ſolchen Hypotheſe ſich fuͤr berechtigt zu halten. Mithin zeigten ſie darin eben Verſtand und Einſicht, daß ſie ſich jene nicht erlaubten, und vielmehr in den Natur- urſachen herum ſuchten, ob ſie unter ihnen nicht die zu Urweſen erfoderliche Beſchaffenheit und Vermoͤgen an- treffen moͤchten. Aber nachdem dieſes ſcharfſinnige Volk ſo weit in Nachforſchungen fortgeruͤckt war, ſelbſt ſittliche Gegenſtaͤnde, daruͤber andere Voͤlker niemals mehr als geſchwatzt haben, philoſophiſch zu behandeln: da fanden ſie allererſt ein neues Beduͤrfniß, nemlich ein practiſches, welches nicht ermangelte ihnen den Begriff des Urweſens beſtimmt anzugeben, wobey die ſpeculati- ve Vernunft das Zuſehen hatte, hoͤchſtens noch das Verdienſt, einen Begriff, der nicht auf ihrem Boden er- wach-

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/261>, abgerufen am 22.11.2024.