Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite

der reinen practischen Vernunft.
den Willen bestimmen können. Alsdenn allein ist Vernunft
nur, so fern sie für sich selbst den Willen bestimmt, (nicht im
Dienste der Neigungen ist,) ein wahres oberes Begehrungs-
vermögen, dem das pathologisch bestimmbare untergeordnet ist,
und wirklich, ja specifisch von diesem unterschieden, so daß
sogar die mindeste Beymischung von den Antrieben der letzteren
ihrer Stärke und Vorzuge Abbruch thut, so wie das mindeste
Empirische, als Bedingung in einer mathematischen Demon-
stration, ihre Würde und Nachdruck herabsetzt und vernichtet.
Die Vernunft bestimmt in einem practischen Gesetze unmittel-
bar den Willen, nicht vermittelst eines dazwischen kommenden
Gefühls der Lust und Unlust, selbst nicht an diesem Gesetze,
und nur, daß sie als reine Vernunft practisch seyn kann, macht
es ihr möglich, gesetzgebend zu seyn.

Anmerkung II.

Glücklich zu seyn, ist nothwendig das Verlangen jedes
vernünftigen aber endlichen Wesens, und also ein unvermeidli-
cher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens. Denn
die Zufriedenheit mit seinem ganzen Daseyn ist nicht etwa ein
ursprünglicher Besitz, und eine Seligkeit, welche ein Bewußt-
seyn seiner unabhängigen Selbstgenugsamkeit voraussetzen wür-
de, sondern ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufge-
drungenes Problem, weil es bedürftig ist, und dieses Be-
dürfniß betrift die Materie seines Begehrungsvermögens, d. i.
etwas, was sich auf ein subjectiv zum Grunde liegendes Ge-
fühl der Lust oder Unlust bezieht, dadurch das, was es zur
Zufriedenheit mit seinem Zustande bedarf, bestimmt wird.
Aber eben darum, weil dieser materiale Bestimmungsgrund
von dem Subjecte blos empirisch erkannt werden kann, ist es
unmöglich diese Aufgabe als ein Gesetz zu betrachten, weil die-
ses als objectiv in allen Fällen und für alle vernünftige Wesen

eben

der reinen practiſchen Vernunft.
den Willen beſtimmen koͤnnen. Alsdenn allein iſt Vernunft
nur, ſo fern ſie fuͤr ſich ſelbſt den Willen beſtimmt, (nicht im
Dienſte der Neigungen iſt,) ein wahres oberes Begehrungs-
vermoͤgen, dem das pathologiſch beſtimmbare untergeordnet iſt,
und wirklich, ja ſpecifiſch von dieſem unterſchieden, ſo daß
ſogar die mindeſte Beymiſchung von den Antrieben der letzteren
ihrer Staͤrke und Vorzuge Abbruch thut, ſo wie das mindeſte
Empiriſche, als Bedingung in einer mathematiſchen Demon-
ſtration, ihre Wuͤrde und Nachdruck herabſetzt und vernichtet.
Die Vernunft beſtimmt in einem practiſchen Geſetze unmittel-
bar den Willen, nicht vermittelſt eines dazwiſchen kommenden
Gefuͤhls der Luſt und Unluſt, ſelbſt nicht an dieſem Geſetze,
und nur, daß ſie als reine Vernunft practiſch ſeyn kann, macht
es ihr moͤglich, geſetzgebend zu ſeyn.

Anmerkung II.

Gluͤcklich zu ſeyn, iſt nothwendig das Verlangen jedes
vernuͤnftigen aber endlichen Weſens, und alſo ein unvermeidli-
cher Beſtimmungsgrund ſeines Begehrungsvermoͤgens. Denn
die Zufriedenheit mit ſeinem ganzen Daſeyn iſt nicht etwa ein
urſpruͤnglicher Beſitz, und eine Seligkeit, welche ein Bewußt-
ſeyn ſeiner unabhaͤngigen Selbſtgenugſamkeit vorausſetzen wuͤr-
de, ſondern ein durch ſeine endliche Natur ſelbſt ihm aufge-
drungenes Problem, weil es beduͤrftig iſt, und dieſes Be-
duͤrfniß betrift die Materie ſeines Begehrungsvermoͤgens, d. i.
etwas, was ſich auf ein ſubjectiv zum Grunde liegendes Ge-
fuͤhl der Luſt oder Unluſt bezieht, dadurch das, was es zur
Zufriedenheit mit ſeinem Zuſtande bedarf, beſtimmt wird.
Aber eben darum, weil dieſer materiale Beſtimmungsgrund
von dem Subjecte blos empiriſch erkannt werden kann, iſt es
unmoͤglich dieſe Aufgabe als ein Geſetz zu betrachten, weil die-
ſes als objectiv in allen Faͤllen und fuͤr alle vernuͤnftige Weſen

eben
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0053" n="45"/><fw place="top" type="header">der reinen practi&#x017F;chen Vernunft.</fw><lb/>
den Willen be&#x017F;timmen ko&#x0364;nnen. Alsdenn allein i&#x017F;t Vernunft<lb/>
nur, &#x017F;o fern &#x017F;ie fu&#x0364;r &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t den Willen be&#x017F;timmt, (nicht im<lb/>
Dien&#x017F;te der Neigungen i&#x017F;t,) ein wahres <hi rendition="#fr">oberes</hi> Begehrungs-<lb/>
vermo&#x0364;gen, dem das pathologi&#x017F;ch be&#x017F;timmbare untergeordnet i&#x017F;t,<lb/>
und wirklich, ja <hi rendition="#fr">&#x017F;pecifi&#x017F;ch</hi> von die&#x017F;em unter&#x017F;chieden, &#x017F;o daß<lb/>
&#x017F;ogar die minde&#x017F;te Beymi&#x017F;chung von den Antrieben der letzteren<lb/>
ihrer Sta&#x0364;rke und Vorzuge Abbruch thut, &#x017F;o wie das minde&#x017F;te<lb/>
Empiri&#x017F;che, als Bedingung in einer mathemati&#x017F;chen Demon-<lb/>
&#x017F;tration, ihre Wu&#x0364;rde und Nachdruck herab&#x017F;etzt und vernichtet.<lb/>
Die Vernunft be&#x017F;timmt in einem practi&#x017F;chen Ge&#x017F;etze unmittel-<lb/>
bar den Willen, nicht vermittel&#x017F;t eines dazwi&#x017F;chen kommenden<lb/>
Gefu&#x0364;hls der Lu&#x017F;t und Unlu&#x017F;t, &#x017F;elb&#x017F;t nicht an die&#x017F;em Ge&#x017F;etze,<lb/>
und nur, daß &#x017F;ie als reine Vernunft practi&#x017F;ch &#x017F;eyn kann, macht<lb/>
es ihr mo&#x0364;glich, <hi rendition="#fr">ge&#x017F;etzgebend</hi> zu &#x017F;eyn.</p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Anmerkung</hi> <hi rendition="#aq">II.</hi> </hi> </head><lb/>
                <p>Glu&#x0364;cklich zu &#x017F;eyn, i&#x017F;t nothwendig das Verlangen jedes<lb/>
vernu&#x0364;nftigen aber endlichen We&#x017F;ens, und al&#x017F;o ein unvermeidli-<lb/>
cher Be&#x017F;timmungsgrund &#x017F;eines Begehrungsvermo&#x0364;gens. Denn<lb/>
die Zufriedenheit mit &#x017F;einem ganzen Da&#x017F;eyn i&#x017F;t nicht etwa ein<lb/>
ur&#x017F;pru&#x0364;nglicher Be&#x017F;itz, und eine Seligkeit, welche ein Bewußt-<lb/>
&#x017F;eyn &#x017F;einer unabha&#x0364;ngigen Selb&#x017F;tgenug&#x017F;amkeit voraus&#x017F;etzen wu&#x0364;r-<lb/>
de, &#x017F;ondern ein durch &#x017F;eine endliche Natur &#x017F;elb&#x017F;t ihm aufge-<lb/>
drungenes Problem, weil es bedu&#x0364;rftig i&#x017F;t, und die&#x017F;es Be-<lb/>
du&#x0364;rfniß betrift die Materie &#x017F;eines Begehrungsvermo&#x0364;gens, d. i.<lb/>
etwas, was &#x017F;ich auf ein &#x017F;ubjectiv zum Grunde liegendes Ge-<lb/>
fu&#x0364;hl der Lu&#x017F;t oder Unlu&#x017F;t bezieht, dadurch das, was es zur<lb/>
Zufriedenheit mit &#x017F;einem Zu&#x017F;tande bedarf, be&#x017F;timmt wird.<lb/>
Aber eben darum, weil die&#x017F;er materiale Be&#x017F;timmungsgrund<lb/>
von dem Subjecte blos empiri&#x017F;ch erkannt werden kann, i&#x017F;t es<lb/>
unmo&#x0364;glich die&#x017F;e Aufgabe als ein Ge&#x017F;etz zu betrachten, weil die-<lb/>
&#x017F;es als objectiv in allen Fa&#x0364;llen und fu&#x0364;r alle vernu&#x0364;nftige We&#x017F;en<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">eben</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[45/0053] der reinen practiſchen Vernunft. den Willen beſtimmen koͤnnen. Alsdenn allein iſt Vernunft nur, ſo fern ſie fuͤr ſich ſelbſt den Willen beſtimmt, (nicht im Dienſte der Neigungen iſt,) ein wahres oberes Begehrungs- vermoͤgen, dem das pathologiſch beſtimmbare untergeordnet iſt, und wirklich, ja ſpecifiſch von dieſem unterſchieden, ſo daß ſogar die mindeſte Beymiſchung von den Antrieben der letzteren ihrer Staͤrke und Vorzuge Abbruch thut, ſo wie das mindeſte Empiriſche, als Bedingung in einer mathematiſchen Demon- ſtration, ihre Wuͤrde und Nachdruck herabſetzt und vernichtet. Die Vernunft beſtimmt in einem practiſchen Geſetze unmittel- bar den Willen, nicht vermittelſt eines dazwiſchen kommenden Gefuͤhls der Luſt und Unluſt, ſelbſt nicht an dieſem Geſetze, und nur, daß ſie als reine Vernunft practiſch ſeyn kann, macht es ihr moͤglich, geſetzgebend zu ſeyn. Anmerkung II. Gluͤcklich zu ſeyn, iſt nothwendig das Verlangen jedes vernuͤnftigen aber endlichen Weſens, und alſo ein unvermeidli- cher Beſtimmungsgrund ſeines Begehrungsvermoͤgens. Denn die Zufriedenheit mit ſeinem ganzen Daſeyn iſt nicht etwa ein urſpruͤnglicher Beſitz, und eine Seligkeit, welche ein Bewußt- ſeyn ſeiner unabhaͤngigen Selbſtgenugſamkeit vorausſetzen wuͤr- de, ſondern ein durch ſeine endliche Natur ſelbſt ihm aufge- drungenes Problem, weil es beduͤrftig iſt, und dieſes Be- duͤrfniß betrift die Materie ſeines Begehrungsvermoͤgens, d. i. etwas, was ſich auf ein ſubjectiv zum Grunde liegendes Ge- fuͤhl der Luſt oder Unluſt bezieht, dadurch das, was es zur Zufriedenheit mit ſeinem Zuſtande bedarf, beſtimmt wird. Aber eben darum, weil dieſer materiale Beſtimmungsgrund von dem Subjecte blos empiriſch erkannt werden kann, iſt es unmoͤglich dieſe Aufgabe als ein Geſetz zu betrachten, weil die- ſes als objectiv in allen Faͤllen und fuͤr alle vernuͤnftige Weſen eben

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/53
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/53>, abgerufen am 22.11.2024.