Obiect vorzustellen, oder besser gesagt, zu bezeichnen. Die- ses Ich müßte eine Anschauung seyn, welche, da sie beim Denken überhaupt (vor aller Erfahrung) vorausgesezt würde, als Anschauung a priori synthetische Sätze lieferte, wenn es möglich seyn sollte, eine reine Vernunfterkentniß von der Natur eines denkenden Wesens überhaupt zu Stan- de zu bringen. Allein dieses Ich ist so wenig Anschauung, als Begriff von irgend einem Gegenstande, sondern die blosse Form des Bewustseyns, welches beiderley Vorstel- lungen begleiten, und sie dadurch zu Erkentnissen erheben kan, so fern nemlich dazu noch irgend etwas anders in der Anschauung gegeben wird, welches zu einer Vorstel- lung von einem Gegenstande Stoff darreichet. Also fällt die ganze rationale Psychologie, als eine, alle Kräfte der menschlichen Vernunft übersteigende Wissenschaft, und es bleibt uns nichts übrig, als unsere Seele an dem Leitfa- den der Erfahrung zu studiren und uns in den Schranken der Fragen zu halten, die nicht weiter gehen, als mögli- che innere Erfahrung ihren Inhalt darlegen kan.
Ob sie nun aber gleich als erweiternde Erkentniß keinen Nutzen hat, sondern als solche aus lauter Paralo- gismen zusammengesezt ist, so kan man ihr doch, wenn sie vor nichts mehr, als eine critische Behandlung unserer dialectischer Schlüsse und zwar der gemeinen und natürli- chen Vernunft, gelten soll, einen wichtigen negativen Nutzen nicht absprechen.
Wozu
Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch.
Obiect vorzuſtellen, oder beſſer geſagt, zu bezeichnen. Die- ſes Ich muͤßte eine Anſchauung ſeyn, welche, da ſie beim Denken uͤberhaupt (vor aller Erfahrung) vorausgeſezt wuͤrde, als Anſchauung a priori ſynthetiſche Saͤtze lieferte, wenn es moͤglich ſeyn ſollte, eine reine Vernunfterkentniß von der Natur eines denkenden Weſens uͤberhaupt zu Stan- de zu bringen. Allein dieſes Ich iſt ſo wenig Anſchauung, als Begriff von irgend einem Gegenſtande, ſondern die bloſſe Form des Bewuſtſeyns, welches beiderley Vorſtel- lungen begleiten, und ſie dadurch zu Erkentniſſen erheben kan, ſo fern nemlich dazu noch irgend etwas anders in der Anſchauung gegeben wird, welches zu einer Vorſtel- lung von einem Gegenſtande Stoff darreichet. Alſo faͤllt die ganze rationale Pſychologie, als eine, alle Kraͤfte der menſchlichen Vernunft uͤberſteigende Wiſſenſchaft, und es bleibt uns nichts uͤbrig, als unſere Seele an dem Leitfa- den der Erfahrung zu ſtudiren und uns in den Schranken der Fragen zu halten, die nicht weiter gehen, als moͤgli- che innere Erfahrung ihren Inhalt darlegen kan.
Ob ſie nun aber gleich als erweiternde Erkentniß keinen Nutzen hat, ſondern als ſolche aus lauter Paralo- gismen zuſammengeſezt iſt, ſo kan man ihr doch, wenn ſie vor nichts mehr, als eine critiſche Behandlung unſerer dialectiſcher Schluͤſſe und zwar der gemeinen und natuͤrli- chen Vernunft, gelten ſoll, einen wichtigen negativen Nutzen nicht abſprechen.
Wozu
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><divn="7"><divn="8"><p><pbfacs="#f0412"n="382"/><fwplace="top"type="header">Elementarl. <hirendition="#aq">II.</hi> Th. <hirendition="#aq">II.</hi> Abth. <hirendition="#aq">II.</hi> Buch.</fw><lb/>
Obiect vorzuſtellen, oder beſſer geſagt, zu bezeichnen. Die-<lb/>ſes <hirendition="#fr">Ich</hi> muͤßte eine Anſchauung ſeyn, welche, da ſie beim<lb/>
Denken uͤberhaupt (vor aller Erfahrung) vorausgeſezt<lb/>
wuͤrde, als Anſchauung <hirendition="#aq">a priori</hi>ſynthetiſche Saͤtze lieferte,<lb/>
wenn es moͤglich ſeyn ſollte, eine reine Vernunfterkentniß<lb/>
von der Natur eines denkenden Weſens uͤberhaupt zu Stan-<lb/>
de zu bringen. Allein dieſes Ich iſt ſo wenig Anſchauung,<lb/>
als Begriff von irgend einem Gegenſtande, ſondern die<lb/>
bloſſe Form des Bewuſtſeyns, welches beiderley Vorſtel-<lb/>
lungen begleiten, und ſie dadurch zu Erkentniſſen erheben<lb/>
kan, ſo fern nemlich dazu noch irgend etwas anders in<lb/>
der Anſchauung gegeben wird, welches zu einer Vorſtel-<lb/>
lung von einem Gegenſtande <hirendition="#fr">Stoff</hi> darreichet. Alſo faͤllt<lb/>
die ganze rationale Pſychologie, als eine, alle Kraͤfte der<lb/>
menſchlichen Vernunft uͤberſteigende Wiſſenſchaft, und es<lb/>
bleibt uns nichts uͤbrig, als unſere Seele an dem Leitfa-<lb/>
den der Erfahrung zu ſtudiren und uns in den Schranken<lb/>
der Fragen zu halten, die nicht weiter gehen, als moͤgli-<lb/>
che innere Erfahrung ihren Inhalt darlegen kan.</p><lb/><p>Ob ſie nun aber gleich als erweiternde Erkentniß<lb/>
keinen Nutzen hat, ſondern als ſolche aus lauter Paralo-<lb/>
gismen zuſammengeſezt iſt, ſo kan man ihr doch, wenn<lb/>ſie vor nichts mehr, als eine critiſche Behandlung unſerer<lb/>
dialectiſcher Schluͤſſe und zwar der gemeinen und natuͤrli-<lb/>
chen Vernunft, gelten ſoll, einen wichtigen negativen<lb/>
Nutzen nicht abſprechen.</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Wozu</fw><lb/></div></div></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[382/0412]
Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch.
Obiect vorzuſtellen, oder beſſer geſagt, zu bezeichnen. Die-
ſes Ich muͤßte eine Anſchauung ſeyn, welche, da ſie beim
Denken uͤberhaupt (vor aller Erfahrung) vorausgeſezt
wuͤrde, als Anſchauung a priori ſynthetiſche Saͤtze lieferte,
wenn es moͤglich ſeyn ſollte, eine reine Vernunfterkentniß
von der Natur eines denkenden Weſens uͤberhaupt zu Stan-
de zu bringen. Allein dieſes Ich iſt ſo wenig Anſchauung,
als Begriff von irgend einem Gegenſtande, ſondern die
bloſſe Form des Bewuſtſeyns, welches beiderley Vorſtel-
lungen begleiten, und ſie dadurch zu Erkentniſſen erheben
kan, ſo fern nemlich dazu noch irgend etwas anders in
der Anſchauung gegeben wird, welches zu einer Vorſtel-
lung von einem Gegenſtande Stoff darreichet. Alſo faͤllt
die ganze rationale Pſychologie, als eine, alle Kraͤfte der
menſchlichen Vernunft uͤberſteigende Wiſſenſchaft, und es
bleibt uns nichts uͤbrig, als unſere Seele an dem Leitfa-
den der Erfahrung zu ſtudiren und uns in den Schranken
der Fragen zu halten, die nicht weiter gehen, als moͤgli-
che innere Erfahrung ihren Inhalt darlegen kan.
Ob ſie nun aber gleich als erweiternde Erkentniß
keinen Nutzen hat, ſondern als ſolche aus lauter Paralo-
gismen zuſammengeſezt iſt, ſo kan man ihr doch, wenn
ſie vor nichts mehr, als eine critiſche Behandlung unſerer
dialectiſcher Schluͤſſe und zwar der gemeinen und natuͤrli-
chen Vernunft, gelten ſoll, einen wichtigen negativen
Nutzen nicht abſprechen.
Wozu
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/412>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.