Betrachtung über die Summe der reinen Seelenlehre, zu Folge diesen Paralogismen.
Wenn wir die Seelenlehre, als die Physiologie der in- neren Sinnes, mit der Cörperlehre, als einer Physiolo- gie der Gegenstände äusserer Sinne vergleichen: so finden wir, ausser dem, daß in beiden vieles empirisch erkant werden kan, doch diesen merkwürdigen Unterschied, daß in der lezteren Wissenschaft doch vieles a priori, aus dem blossen Begriffe eines ausgedehnten undurchdringlichen Wesens, in der ersteren aber, aus dem Begriffe eines denkenden Wesens, gar nichts a priori synthetisch erkant werden kan. Die Ursache ist diese. Obgleich beides Er- scheinungen sind, so hat doch die Erscheinung vor dem äusseren Sinne etwas Stehendes, oder Bleibendes, wel- ches ein, den wandelbaren Bestimmungen zum Grunde liegendes Substratum und mithin einen synthetischen Be- griff, nemlich den vom Raume und einer Erscheinung in demselben, an die Hand giebt, anstatt daß die Zeit, wel- che die einzige Form unserer innern Anschauung ist, nichts Bleibendes hat, mithin nur den Wechsel der Bestimmun- gen, nicht aber den bestimbaren Gegenstand zu erkennen giebt. Denn, in dem was wir Seele nennen, ist alles im continuirlichen Flusse und nichts Bleibendes, ausser etwa (wenn man es durchaus will) das darum so einfache Ich, weil diese Vorstellung keinen Inhalt, mithin kein Man- nigfaltiges hat, weswegen sie auch scheint ein einfaches
Obiect
I. Hauptſt. V. d. Paralogismen d. r. Vernunft.
Betrachtung uͤber die Summe der reinen Seelenlehre, zu Folge dieſen Paralogismen.
Wenn wir die Seelenlehre, als die Phyſiologie der in- neren Sinnes, mit der Coͤrperlehre, als einer Phyſiolo- gie der Gegenſtaͤnde aͤuſſerer Sinne vergleichen: ſo finden wir, auſſer dem, daß in beiden vieles empiriſch erkant werden kan, doch dieſen merkwuͤrdigen Unterſchied, daß in der lezteren Wiſſenſchaft doch vieles a priori, aus dem bloſſen Begriffe eines ausgedehnten undurchdringlichen Weſens, in der erſteren aber, aus dem Begriffe eines denkenden Weſens, gar nichts a priori ſynthetiſch erkant werden kan. Die Urſache iſt dieſe. Obgleich beides Er- ſcheinungen ſind, ſo hat doch die Erſcheinung vor dem aͤuſſeren Sinne etwas Stehendes, oder Bleibendes, wel- ches ein, den wandelbaren Beſtimmungen zum Grunde liegendes Subſtratum und mithin einen ſynthetiſchen Be- griff, nemlich den vom Raume und einer Erſcheinung in demſelben, an die Hand giebt, anſtatt daß die Zeit, wel- che die einzige Form unſerer innern Anſchauung iſt, nichts Bleibendes hat, mithin nur den Wechſel der Beſtimmun- gen, nicht aber den beſtimbaren Gegenſtand zu erkennen giebt. Denn, in dem was wir Seele nennen, iſt alles im continuirlichen Fluſſe und nichts Bleibendes, auſſer etwa (wenn man es durchaus will) das darum ſo einfache Ich, weil dieſe Vorſtellung keinen Inhalt, mithin kein Man- nigfaltiges hat, weswegen ſie auch ſcheint ein einfaches
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I. Hauptſt. V. d. Paralogismen d. r. Vernunft.
Betrachtung
uͤber die Summe der reinen Seelenlehre,
zu Folge dieſen Paralogismen.
Wenn wir die Seelenlehre, als die Phyſiologie der in-
neren Sinnes, mit der Coͤrperlehre, als einer Phyſiolo-
gie der Gegenſtaͤnde aͤuſſerer Sinne vergleichen: ſo finden
wir, auſſer dem, daß in beiden vieles empiriſch erkant
werden kan, doch dieſen merkwuͤrdigen Unterſchied, daß
in der lezteren Wiſſenſchaft doch vieles a priori, aus dem
bloſſen Begriffe eines ausgedehnten undurchdringlichen
Weſens, in der erſteren aber, aus dem Begriffe eines
denkenden Weſens, gar nichts a priori ſynthetiſch erkant
werden kan. Die Urſache iſt dieſe. Obgleich beides Er-
ſcheinungen ſind, ſo hat doch die Erſcheinung vor dem
aͤuſſeren Sinne etwas Stehendes, oder Bleibendes, wel-
ches ein, den wandelbaren Beſtimmungen zum Grunde
liegendes Subſtratum und mithin einen ſynthetiſchen Be-
griff, nemlich den vom Raume und einer Erſcheinung in
demſelben, an die Hand giebt, anſtatt daß die Zeit, wel-
che die einzige Form unſerer innern Anſchauung iſt, nichts
Bleibendes hat, mithin nur den Wechſel der Beſtimmun-
gen, nicht aber den beſtimbaren Gegenſtand zu erkennen
giebt. Denn, in dem was wir Seele nennen, iſt alles
im continuirlichen Fluſſe und nichts Bleibendes, auſſer etwa
(wenn man es durchaus will) das darum ſo einfache Ich,
weil dieſe Vorſtellung keinen Inhalt, mithin kein Man-
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/411>, abgerufen am 22.11.2024.
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