Zu der Welt gehört etwas, das, entweder als ihr Theil, oder ihre Ursache, ein schlechthin nothwendig Wesen ist.
Beweis.
Die Sinnenwelt, als das Ganze aller Erscheinun- gen, enthält zugleich eine Reihe von Veränderungen. Denn, ohne diese, würde selbst die Vorstellung der Zeitreihe, als einer Bedingung der Möglichkeit der Sin- nenwelt, uns nicht gegeben seyn*). Eine iede Verände- rung aber steht unter ihrer Bedingung, die der Zeit nach vorher geht und unter welcher sie nothwendig ist. Nun sezt ein iedes Bedingte, das gegeben ist, in Ansehung seiner Existenz, eine vollständige Reihe von Bedingungen bis zum Schlechthinunbedingten voraus, welches allein abso- lutnothwendig ist. Also muß etwas Absolutnothwendiges existiren, wenn eine Veränderung als seine Folge existirt. Dieses Nothwendige aber gehöret selber zur Sinnenwelt. Denn setzet, es sey ausser derselben: so würde von ihm die Reihe der Weltveränderungen ihren Anfang ableiten, ohne
daß
*) Die Zeit geht zwar als formale Bedingung der Mög- lichkeit der Veränderungen vor dieser obiectiv vorher, allein subiectiv, und in der Wirklichkeit des Bewustseyns, ist diese Vorstellung doch nur, so wie iede andere, durch Veranlassung der Wahrnehmungen gegeben.
Der Antinomie
vierter Widerſtreit
Theſis.
Zu der Welt gehoͤrt etwas, das, entweder als ihr Theil, oder ihre Urſache, ein ſchlechthin nothwendig Weſen iſt.
Beweis.
Die Sinnenwelt, als das Ganze aller Erſcheinun- gen, enthaͤlt zugleich eine Reihe von Veraͤnderungen. Denn, ohne dieſe, wuͤrde ſelbſt die Vorſtellung der Zeitreihe, als einer Bedingung der Moͤglichkeit der Sin- nenwelt, uns nicht gegeben ſeyn*). Eine iede Veraͤnde- rung aber ſteht unter ihrer Bedingung, die der Zeit nach vorher geht und unter welcher ſie nothwendig iſt. Nun ſezt ein iedes Bedingte, das gegeben iſt, in Anſehung ſeiner Exiſtenz, eine vollſtaͤndige Reihe von Bedingungen bis zum Schlechthinunbedingten voraus, welches allein abſo- lutnothwendig iſt. Alſo muß etwas Abſolutnothwendiges exiſtiren, wenn eine Veraͤnderung als ſeine Folge exiſtirt. Dieſes Nothwendige aber gehoͤret ſelber zur Sinnenwelt. Denn ſetzet, es ſey auſſer derſelben: ſo wuͤrde von ihm die Reihe der Weltveraͤnderungen ihren Anfang ableiten, ohne
daß
*) Die Zeit geht zwar als formale Bedingung der Moͤg- lichkeit der Veraͤnderungen vor dieſer obiectiv vorher, allein ſubiectiv, und in der Wirklichkeit des Bewuſtſeyns, iſt dieſe Vorſtellung doch nur, ſo wie iede andere, durch Veranlaſſung der Wahrnehmungen gegeben.
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[[452]/0482]
Der Antinomie
vierter Widerſtreit
Theſis.
Zu der Welt gehoͤrt etwas, das, entweder als ihr
Theil, oder ihre Urſache, ein ſchlechthin nothwendig
Weſen iſt.
Beweis.
Die Sinnenwelt, als das Ganze aller Erſcheinun-
gen, enthaͤlt zugleich eine Reihe von Veraͤnderungen.
Denn, ohne dieſe, wuͤrde ſelbſt die Vorſtellung der
Zeitreihe, als einer Bedingung der Moͤglichkeit der Sin-
nenwelt, uns nicht gegeben ſeyn *). Eine iede Veraͤnde-
rung aber ſteht unter ihrer Bedingung, die der Zeit nach
vorher geht und unter welcher ſie nothwendig iſt. Nun
ſezt ein iedes Bedingte, das gegeben iſt, in Anſehung
ſeiner Exiſtenz, eine vollſtaͤndige Reihe von Bedingungen
bis zum Schlechthinunbedingten voraus, welches allein abſo-
lutnothwendig iſt. Alſo muß etwas Abſolutnothwendiges
exiſtiren, wenn eine Veraͤnderung als ſeine Folge exiſtirt.
Dieſes Nothwendige aber gehoͤret ſelber zur Sinnenwelt.
Denn ſetzet, es ſey auſſer derſelben: ſo wuͤrde von ihm die
Reihe der Weltveraͤnderungen ihren Anfang ableiten, ohne
daß
*) Die Zeit geht zwar als formale Bedingung der Moͤg-
lichkeit der Veraͤnderungen vor dieſer obiectiv vorher,
allein ſubiectiv, und in der Wirklichkeit des Bewuſtſeyns,
iſt dieſe Vorſtellung doch nur, ſo wie iede andere, durch
Veranlaſſung der Wahrnehmungen gegeben.
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. [452]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/482>, abgerufen am 22.11.2024.
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