Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptst
sie nicht sagen könne, was das Obiect sey, sondern wie
der empirische Regressus anzustellen sey, um zu dem
vollständigen Begriffe des Obiects zu gelangen. Denn
fände das erstere statt, so würde sie ein constitutives Prin-
cipium seyn, dergleichen aus reiner Vernunft niemals mög-
lich ist. Man kan also damit keinesweges die Absicht ha-
ben, zu sagen: die Reihe der Bedingungen zu einem gege-
benen Bedingten sey an sich endlich, oder unendlich; denn
dadurch würde eine blosse Idee der absoluten Totali-
tät, die lediglich in ihr selbst geschaffen ist, einen Gegen-
stand denken, der in keiner Erfahrung gegeben werden kan,
indem einer Reihe von Erscheinungen eine, von der empi-
rischen Synthesis unabhängige, obiective Realität ertheilet
würde. Die Vernunftidee wird also nur der regressiven
Synthesis in der Reihe der Bedingungen eine Regel vor-
schreiben, nach welcher sie vom Bedingten, vermittelst al-
ler einander untergeordneten Bedingungen, zum Unbeding-
ten fortgeht, obgleich dieses niemals erreicht wird. Denn
das Schlechthinunbedingte wird in der Erfahrung gar nicht
angetroffen.

Zu diesem Ende ist nun erstlich die Synthesis einer
Reihe, so fern sie niemals vollständig ist, genau zu bestim-
men. Man bedient sich in dieser Absicht gewöhnlich zweer
Ausdrücke, die darin etwas unterscheiden sollen, ohne daß
man doch den Grund dieser Unterscheidung recht anzuge-
ben weiß. Die Mathematiker sprechen lediglich von ei-
nem Progressus in infinitum. Die Forscher der Begriffe

(Philo-

Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptſt
ſie nicht ſagen koͤnne, was das Obiect ſey, ſondern wie
der empiriſche Regreſſus anzuſtellen ſey, um zu dem
vollſtaͤndigen Begriffe des Obiects zu gelangen. Denn
faͤnde das erſtere ſtatt, ſo wuͤrde ſie ein conſtitutives Prin-
cipium ſeyn, dergleichen aus reiner Vernunft niemals moͤg-
lich iſt. Man kan alſo damit keinesweges die Abſicht ha-
ben, zu ſagen: die Reihe der Bedingungen zu einem gege-
benen Bedingten ſey an ſich endlich, oder unendlich; denn
dadurch wuͤrde eine bloſſe Idee der abſoluten Totali-
taͤt, die lediglich in ihr ſelbſt geſchaffen iſt, einen Gegen-
ſtand denken, der in keiner Erfahrung gegeben werden kan,
indem einer Reihe von Erſcheinungen eine, von der empi-
riſchen Syntheſis unabhaͤngige, obiective Realitaͤt ertheilet
wuͤrde. Die Vernunftidee wird alſo nur der regreſſiven
Syntheſis in der Reihe der Bedingungen eine Regel vor-
ſchreiben, nach welcher ſie vom Bedingten, vermittelſt al-
ler einander untergeordneten Bedingungen, zum Unbeding-
ten fortgeht, obgleich dieſes niemals erreicht wird. Denn
das Schlechthinunbedingte wird in der Erfahrung gar nicht
angetroffen.

Zu dieſem Ende iſt nun erſtlich die Syntheſis einer
Reihe, ſo fern ſie niemals vollſtaͤndig iſt, genau zu beſtim-
men. Man bedient ſich in dieſer Abſicht gewoͤhnlich zweer
Ausdruͤcke, die darin etwas unterſcheiden ſollen, ohne daß
man doch den Grund dieſer Unterſcheidung recht anzuge-
ben weiß. Die Mathematiker ſprechen lediglich von ei-
nem Progreſſus in infinitum. Die Forſcher der Begriffe

(Philo-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <p><pb facs="#f0540" n="510"/><fw place="top" type="header">Elementarl. <hi rendition="#aq">II.</hi> Th. <hi rendition="#aq">II.</hi> Abth. <hi rendition="#aq">II.</hi> Buch. <hi rendition="#aq">II.</hi> Haupt&#x017F;t</fw><lb/>
&#x017F;ie nicht &#x017F;agen ko&#x0364;nne, was das Obiect &#x017F;ey, &#x017F;ondern wie<lb/>
der empiri&#x017F;che Regre&#x017F;&#x017F;us anzu&#x017F;tellen &#x017F;ey, um zu dem<lb/>
voll&#x017F;ta&#x0364;ndigen Begriffe des Obiects zu gelangen. Denn<lb/>
fa&#x0364;nde das er&#x017F;tere &#x017F;tatt, &#x017F;o wu&#x0364;rde &#x017F;ie ein con&#x017F;titutives Prin-<lb/>
cipium &#x017F;eyn, dergleichen aus reiner Vernunft niemals mo&#x0364;g-<lb/>
lich i&#x017F;t. Man kan al&#x017F;o damit keinesweges die Ab&#x017F;icht ha-<lb/>
ben, zu &#x017F;agen: die Reihe der Bedingungen zu einem gege-<lb/>
benen Bedingten &#x017F;ey an &#x017F;ich endlich, oder unendlich; denn<lb/>
dadurch wu&#x0364;rde eine blo&#x017F;&#x017F;e Idee der ab&#x017F;oluten Totali-<lb/>
ta&#x0364;t, die lediglich in ihr &#x017F;elb&#x017F;t ge&#x017F;chaffen i&#x017F;t, einen Gegen-<lb/>
&#x017F;tand denken, der in keiner Erfahrung gegeben werden kan,<lb/>
indem einer Reihe von Er&#x017F;cheinungen eine, von der empi-<lb/>
ri&#x017F;chen Synthe&#x017F;is unabha&#x0364;ngige, obiective Realita&#x0364;t ertheilet<lb/>
wu&#x0364;rde. Die Vernunftidee wird al&#x017F;o nur der regre&#x017F;&#x017F;iven<lb/>
Synthe&#x017F;is in der Reihe der Bedingungen eine Regel vor-<lb/>
&#x017F;chreiben, nach welcher &#x017F;ie vom Bedingten, vermittel&#x017F;t al-<lb/>
ler einander untergeordneten Bedingungen, zum Unbeding-<lb/>
ten fortgeht, obgleich die&#x017F;es niemals erreicht wird. Denn<lb/>
das Schlechthinunbedingte wird in der Erfahrung gar nicht<lb/>
angetroffen.</p><lb/>
                      <p>Zu die&#x017F;em Ende i&#x017F;t nun er&#x017F;tlich die Synthe&#x017F;is einer<lb/>
Reihe, &#x017F;o fern &#x017F;ie niemals voll&#x017F;ta&#x0364;ndig i&#x017F;t, genau zu be&#x017F;tim-<lb/>
men. Man bedient &#x017F;ich in die&#x017F;er Ab&#x017F;icht gewo&#x0364;hnlich zweer<lb/>
Ausdru&#x0364;cke, die darin etwas unter&#x017F;cheiden &#x017F;ollen, ohne daß<lb/>
man doch den Grund die&#x017F;er Unter&#x017F;cheidung recht anzuge-<lb/>
ben weiß. Die Mathematiker &#x017F;prechen lediglich von ei-<lb/>
nem <hi rendition="#aq">Progre&#x017F;&#x017F;us in infinitum</hi>. Die For&#x017F;cher der Begriffe<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">(Philo-</fw><lb/></p>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[510/0540] Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptſt ſie nicht ſagen koͤnne, was das Obiect ſey, ſondern wie der empiriſche Regreſſus anzuſtellen ſey, um zu dem vollſtaͤndigen Begriffe des Obiects zu gelangen. Denn faͤnde das erſtere ſtatt, ſo wuͤrde ſie ein conſtitutives Prin- cipium ſeyn, dergleichen aus reiner Vernunft niemals moͤg- lich iſt. Man kan alſo damit keinesweges die Abſicht ha- ben, zu ſagen: die Reihe der Bedingungen zu einem gege- benen Bedingten ſey an ſich endlich, oder unendlich; denn dadurch wuͤrde eine bloſſe Idee der abſoluten Totali- taͤt, die lediglich in ihr ſelbſt geſchaffen iſt, einen Gegen- ſtand denken, der in keiner Erfahrung gegeben werden kan, indem einer Reihe von Erſcheinungen eine, von der empi- riſchen Syntheſis unabhaͤngige, obiective Realitaͤt ertheilet wuͤrde. Die Vernunftidee wird alſo nur der regreſſiven Syntheſis in der Reihe der Bedingungen eine Regel vor- ſchreiben, nach welcher ſie vom Bedingten, vermittelſt al- ler einander untergeordneten Bedingungen, zum Unbeding- ten fortgeht, obgleich dieſes niemals erreicht wird. Denn das Schlechthinunbedingte wird in der Erfahrung gar nicht angetroffen. Zu dieſem Ende iſt nun erſtlich die Syntheſis einer Reihe, ſo fern ſie niemals vollſtaͤndig iſt, genau zu beſtim- men. Man bedient ſich in dieſer Abſicht gewoͤhnlich zweer Ausdruͤcke, die darin etwas unterſcheiden ſollen, ohne daß man doch den Grund dieſer Unterſcheidung recht anzuge- ben weiß. Die Mathematiker ſprechen lediglich von ei- nem Progreſſus in infinitum. Die Forſcher der Begriffe (Philo-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/540
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 510. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/540>, abgerufen am 22.11.2024.