Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

VII. Absch. Critik aller speculativen Theologie.
an der sehr verschiedenen Denkungsart der Naturforscher,
deren einige (die vorzüglich speculativ sind), der Ungleich-
artigkeit gleichsam feind, immer auf die Einheit der Gat-
tung hinaussehen, die andere (vorzüglich empirische Köpfe)
die Natur unaufhörlich in so viel Mannigfaltigkeit zu
spalten suchen, daß man beinahe die Hoffnung aufge-
ben müßte, ihre Erscheinungen nach allgemeinen Prin-
cipien zu beurtheilen.

Dieser lezteren Denkungsart liegt offenbar auch ein
logisches Princip zum Grunde, welches die systematische
Vollständigkeit aller Erkentnisse zur Absicht hat, wenn ich,
von der Gattung anhebend, zu dem Mannigfaltigen, das
darunter enthalten seyn mag, herabsteige, und auf solche
Weise dem System Ausbreitung, wie im ersteren Falle,
da ich zur Gattung aufsteige, Einfalt zu verschaffen suche.
Denn aus der Sphäre des Begriffs, der eine Gattung be-
zeichnet, ist eben so wenig, wie aus dem Raume, den
Materie einnehmen kan, zu ersehen, wie weit die Theilung
derselben gehen könne. Daher iede Gattung verschiedene
Arten, diese aber verschiedene Unterarten erfodert und,
da keine der lezteren statt findet, die nicht immer wieder-
um eine Sphäre (Umfang als conceptus communis)
hätte, so verlangt die Vernunft in ihrer ganzen Erweite-
rung, daß keine Art als die unterste an sich selbst angese-
hen werde, weil, da sie doch immer ein Begriff ist, der
nur das, was verschiedenen Dingen gemein ist, in sich ent-
hält, dieser nicht durchgängig bestimt, mithin auch nicht

zu-

VII. Abſch. Critik aller ſpeculativen Theologie.
an der ſehr verſchiedenen Denkungsart der Naturforſcher,
deren einige (die vorzuͤglich ſpeculativ ſind), der Ungleich-
artigkeit gleichſam feind, immer auf die Einheit der Gat-
tung hinausſehen, die andere (vorzuͤglich empiriſche Koͤpfe)
die Natur unaufhoͤrlich in ſo viel Mannigfaltigkeit zu
ſpalten ſuchen, daß man beinahe die Hoffnung aufge-
ben muͤßte, ihre Erſcheinungen nach allgemeinen Prin-
cipien zu beurtheilen.

Dieſer lezteren Denkungsart liegt offenbar auch ein
logiſches Princip zum Grunde, welches die ſyſtematiſche
Vollſtaͤndigkeit aller Erkentniſſe zur Abſicht hat, wenn ich,
von der Gattung anhebend, zu dem Mannigfaltigen, das
darunter enthalten ſeyn mag, herabſteige, und auf ſolche
Weiſe dem Syſtem Ausbreitung, wie im erſteren Falle,
da ich zur Gattung aufſteige, Einfalt zu verſchaffen ſuche.
Denn aus der Sphaͤre des Begriffs, der eine Gattung be-
zeichnet, iſt eben ſo wenig, wie aus dem Raume, den
Materie einnehmen kan, zu erſehen, wie weit die Theilung
derſelben gehen koͤnne. Daher iede Gattung verſchiedene
Arten, dieſe aber verſchiedene Unterarten erfodert und,
da keine der lezteren ſtatt findet, die nicht immer wieder-
um eine Sphaͤre (Umfang als conceptus communis)
haͤtte, ſo verlangt die Vernunft in ihrer ganzen Erweite-
rung, daß keine Art als die unterſte an ſich ſelbſt angeſe-
hen werde, weil, da ſie doch immer ein Begriff iſt, der
nur das, was verſchiedenen Dingen gemein iſt, in ſich ent-
haͤlt, dieſer nicht durchgaͤngig beſtimt, mithin auch nicht

zu-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <div n="9">
                        <p><pb facs="#f0685" n="655"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VII.</hi> Ab&#x017F;ch. Critik aller &#x017F;peculativen Theologie.</fw><lb/>
an der &#x017F;ehr ver&#x017F;chiedenen Denkungsart der Naturfor&#x017F;cher,<lb/>
deren einige (die vorzu&#x0364;glich &#x017F;peculativ &#x017F;ind), der Ungleich-<lb/>
artigkeit gleich&#x017F;am feind, immer auf die Einheit der Gat-<lb/>
tung hinaus&#x017F;ehen, die andere (vorzu&#x0364;glich empiri&#x017F;che Ko&#x0364;pfe)<lb/>
die Natur unaufho&#x0364;rlich in &#x017F;o viel Mannigfaltigkeit zu<lb/>
&#x017F;palten &#x017F;uchen, daß man beinahe die Hoffnung aufge-<lb/>
ben mu&#x0364;ßte, ihre Er&#x017F;cheinungen nach allgemeinen Prin-<lb/>
cipien zu beurtheilen.</p><lb/>
                        <p>Die&#x017F;er lezteren Denkungsart liegt offenbar auch ein<lb/>
logi&#x017F;ches Princip zum Grunde, welches die &#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;che<lb/>
Voll&#x017F;ta&#x0364;ndigkeit aller Erkentni&#x017F;&#x017F;e zur Ab&#x017F;icht hat, wenn ich,<lb/>
von der Gattung anhebend, zu dem Mannigfaltigen, das<lb/>
darunter enthalten &#x017F;eyn mag, herab&#x017F;teige, und auf &#x017F;olche<lb/>
Wei&#x017F;e dem Sy&#x017F;tem Ausbreitung, wie im er&#x017F;teren Falle,<lb/>
da ich zur Gattung auf&#x017F;teige, Einfalt zu ver&#x017F;chaffen &#x017F;uche.<lb/>
Denn aus der Spha&#x0364;re des Begriffs, der eine Gattung be-<lb/>
zeichnet, i&#x017F;t eben &#x017F;o wenig, wie aus dem Raume, den<lb/>
Materie einnehmen kan, zu er&#x017F;ehen, wie weit die Theilung<lb/>
der&#x017F;elben gehen ko&#x0364;nne. Daher iede <hi rendition="#fr">Gattung</hi> ver&#x017F;chiedene<lb/><hi rendition="#fr">Arten</hi>, die&#x017F;e aber ver&#x017F;chiedene <hi rendition="#fr">Unterarten</hi> erfodert und,<lb/>
da keine der lezteren &#x017F;tatt findet, die nicht immer wieder-<lb/>
um eine Spha&#x0364;re (Umfang als <hi rendition="#aq">conceptus communis)</hi><lb/>
ha&#x0364;tte, &#x017F;o verlangt die Vernunft in ihrer ganzen Erweite-<lb/>
rung, daß keine Art als die unter&#x017F;te an &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t ange&#x017F;e-<lb/>
hen werde, weil, da &#x017F;ie doch immer ein Begriff i&#x017F;t, der<lb/>
nur das, was ver&#x017F;chiedenen Dingen gemein i&#x017F;t, in &#x017F;ich ent-<lb/>
ha&#x0364;lt, die&#x017F;er nicht durchga&#x0364;ngig be&#x017F;timt, mithin auch nicht<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">zu-</fw><lb/></p>
                      </div>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[655/0685] VII. Abſch. Critik aller ſpeculativen Theologie. an der ſehr verſchiedenen Denkungsart der Naturforſcher, deren einige (die vorzuͤglich ſpeculativ ſind), der Ungleich- artigkeit gleichſam feind, immer auf die Einheit der Gat- tung hinausſehen, die andere (vorzuͤglich empiriſche Koͤpfe) die Natur unaufhoͤrlich in ſo viel Mannigfaltigkeit zu ſpalten ſuchen, daß man beinahe die Hoffnung aufge- ben muͤßte, ihre Erſcheinungen nach allgemeinen Prin- cipien zu beurtheilen. Dieſer lezteren Denkungsart liegt offenbar auch ein logiſches Princip zum Grunde, welches die ſyſtematiſche Vollſtaͤndigkeit aller Erkentniſſe zur Abſicht hat, wenn ich, von der Gattung anhebend, zu dem Mannigfaltigen, das darunter enthalten ſeyn mag, herabſteige, und auf ſolche Weiſe dem Syſtem Ausbreitung, wie im erſteren Falle, da ich zur Gattung aufſteige, Einfalt zu verſchaffen ſuche. Denn aus der Sphaͤre des Begriffs, der eine Gattung be- zeichnet, iſt eben ſo wenig, wie aus dem Raume, den Materie einnehmen kan, zu erſehen, wie weit die Theilung derſelben gehen koͤnne. Daher iede Gattung verſchiedene Arten, dieſe aber verſchiedene Unterarten erfodert und, da keine der lezteren ſtatt findet, die nicht immer wieder- um eine Sphaͤre (Umfang als conceptus communis) haͤtte, ſo verlangt die Vernunft in ihrer ganzen Erweite- rung, daß keine Art als die unterſte an ſich ſelbſt angeſe- hen werde, weil, da ſie doch immer ein Begriff iſt, der nur das, was verſchiedenen Dingen gemein iſt, in ſich ent- haͤlt, dieſer nicht durchgaͤngig beſtimt, mithin auch nicht zu-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/685
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 655. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/685>, abgerufen am 16.07.2024.