So giebt es denn einen doppelten Vernunftgebrauch, der, unerachtet der Allgemeinheit der Erkentniß und ihrer Erzeugung a priori, welche sie gemein haben, dennoch im Fortgange sehr verschieden ist, und zwar darum, weil in der Erscheinung, als wodurch uns alle Gegenstände gegeben werden, zwey Stücke sind: die Form der Anschauung (Raum und Zeit), die völlig a priori erkant und bestimt werden kan, und die Materie (das Physische) oder der Sehalt, welcher ein Etwas be- deutet, das im Raume und der Zeit angetroffen wird, mithin ein Daseyn enthält und der Empfindung correspon- dirt. In Ansehung des lezteren, welches niemals anders auf bestimte Art, als empirisch gegeben werden kan, kön- nen wir nichts a priori haben, als unbestimte Begriffe der Synthesis möglicher Empfindungen, so fern sie zur Einheit der Apperception (in einer möglichen Erfahrung) gehören. In Ansehung der erstern können wir unsere Be- griffe in der Anschauung a priori bestimmen, indem wir uns im Raume und der Zeit die Gegenstände selbst durch gleichförmige Synthesis schaffen, indem wir sie blos als Quanta betrachten. Jener heißt der Vernunftgebrauch nach Begriffen, indem wir nichts weiter thun können, als Erscheinungen dem realen Inhalte nach unter Begriffe zu bringen, welche darauf nicht anders als empirisch, d. i. a posteriori, (aber ienen Begriffen als Regeln einer em- pirischen Synthesis gemäß) können bestimt werden; die- ser ist der Vernunftgebrauch durch Construction der Be-
griffe,
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Die Diſciplin der reinen Vernunft im dogm. ꝛc.
So giebt es denn einen doppelten Vernunftgebrauch, der, unerachtet der Allgemeinheit der Erkentniß und ihrer Erzeugung a priori, welche ſie gemein haben, dennoch im Fortgange ſehr verſchieden iſt, und zwar darum, weil in der Erſcheinung, als wodurch uns alle Gegenſtaͤnde gegeben werden, zwey Stuͤcke ſind: die Form der Anſchauung (Raum und Zeit), die voͤllig a priori erkant und beſtimt werden kan, und die Materie (das Phyſiſche) oder der Sehalt, welcher ein Etwas be- deutet, das im Raume und der Zeit angetroffen wird, mithin ein Daſeyn enthaͤlt und der Empfindung correſpon- dirt. In Anſehung des lezteren, welches niemals anders auf beſtimte Art, als empiriſch gegeben werden kan, koͤn- nen wir nichts a priori haben, als unbeſtimte Begriffe der Syntheſis moͤglicher Empfindungen, ſo fern ſie zur Einheit der Apperception (in einer moͤglichen Erfahrung) gehoͤren. In Anſehung der erſtern koͤnnen wir unſere Be- griffe in der Anſchauung a priori beſtimmen, indem wir uns im Raume und der Zeit die Gegenſtaͤnde ſelbſt durch gleichfoͤrmige Syntheſis ſchaffen, indem wir ſie blos als Quanta betrachten. Jener heißt der Vernunftgebrauch nach Begriffen, indem wir nichts weiter thun koͤnnen, als Erſcheinungen dem realen Inhalte nach unter Begriffe zu bringen, welche darauf nicht anders als empiriſch, d. i. a poſteriori, (aber ienen Begriffen als Regeln einer em- piriſchen Syntheſis gemaͤß) koͤnnen beſtimt werden; die- ſer iſt der Vernunftgebrauch durch Conſtruction der Be-
griffe,
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Die Diſciplin der reinen Vernunft im dogm. ꝛc.
So giebt es denn einen doppelten Vernunftgebrauch,
der, unerachtet der Allgemeinheit der Erkentniß und
ihrer Erzeugung a priori, welche ſie gemein haben,
dennoch im Fortgange ſehr verſchieden iſt, und zwar
darum, weil in der Erſcheinung, als wodurch uns
alle Gegenſtaͤnde gegeben werden, zwey Stuͤcke ſind: die
Form der Anſchauung (Raum und Zeit), die voͤllig a
priori erkant und beſtimt werden kan, und die Materie
(das Phyſiſche) oder der Sehalt, welcher ein Etwas be-
deutet, das im Raume und der Zeit angetroffen wird,
mithin ein Daſeyn enthaͤlt und der Empfindung correſpon-
dirt. In Anſehung des lezteren, welches niemals anders
auf beſtimte Art, als empiriſch gegeben werden kan, koͤn-
nen wir nichts a priori haben, als unbeſtimte Begriffe
der Syntheſis moͤglicher Empfindungen, ſo fern ſie zur
Einheit der Apperception (in einer moͤglichen Erfahrung)
gehoͤren. In Anſehung der erſtern koͤnnen wir unſere Be-
griffe in der Anſchauung a priori beſtimmen, indem wir
uns im Raume und der Zeit die Gegenſtaͤnde ſelbſt durch
gleichfoͤrmige Syntheſis ſchaffen, indem wir ſie blos als
Quanta betrachten. Jener heißt der Vernunftgebrauch
nach Begriffen, indem wir nichts weiter thun koͤnnen, als
Erſcheinungen dem realen Inhalte nach unter Begriffe zu
bringen, welche darauf nicht anders als empiriſch, d. i.
a poſteriori, (aber ienen Begriffen als Regeln einer em-
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 723. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/753>, abgerufen am 22.11.2024.
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