übersehen worden und es nöthig machen, sie entweder mehr zu bestimmen, oder ganz abzuändern.
Ich theile alle apodictische Sätze (sie mögen nun er- weislich oder auch unmittelbar gewiß seyn) in Dogmata und Mathemata ein. Ein directsynthetischer Satz aus Begriffen ist ein Dogma, dagegen ein dergleichen Satz, durch Construction der Begriffe, ist ein Mathema. Ana- lytische Urtheile lehren uns eigentlich nichts mehr vom Ge- genstande, als was der Begriff, den wir von ihm haben, schon in sich enthält, weil sie die Erkentniß über den Be- griff des Subiects nicht erweitern, sondern diesen nur er- läutern. Sie können daher nicht füglich Dogmen heissen (welches Wort man vielleicht durch Lehrsprüche übersetzen könte). Aber unter den gedachten zweien Arten syntheti- scher Sätze a priori können, nach dem gewöhnlichen Rede- gebrauch, nur die, zum philosophischen Erkentnisse gehö- rige diesen Nahmen führen, und man würde schwerlich die Sätze der Rechenkunst, oder Geometrie Dogmata nen- nen. Also bestätigt dieser Gebrauch die Erklärung, die wir gaben, daß nur Urtheile aus Begriffen und nicht die, aus der Construction der Begriffe, dogmatisch heissen können.
Nun enthält die ganze reine Vernunft in ihrem blos speculativen Gebrauche nicht ein einziges directsynthe- tisches Urtheil aus Begriffen. Denn durch Ideen ist sie, wie wir gezeigt haben, gar keiner synthetischer Urtheile, die obiective Gültigkeit hätten, fähig; durch Verstandes-
begriffe
Methodenlehre I. Hauptſt. I. Abſch.
uͤberſehen worden und es noͤthig machen, ſie entweder mehr zu beſtimmen, oder ganz abzuaͤndern.
Ich theile alle apodictiſche Saͤtze (ſie moͤgen nun er- weislich oder auch unmittelbar gewiß ſeyn) in Dogmata und Mathemata ein. Ein directſynthetiſcher Satz aus Begriffen iſt ein Dogma, dagegen ein dergleichen Satz, durch Conſtruction der Begriffe, iſt ein Mathema. Ana- lytiſche Urtheile lehren uns eigentlich nichts mehr vom Ge- genſtande, als was der Begriff, den wir von ihm haben, ſchon in ſich enthaͤlt, weil ſie die Erkentniß uͤber den Be- griff des Subiects nicht erweitern, ſondern dieſen nur er- laͤutern. Sie koͤnnen daher nicht fuͤglich Dogmen heiſſen (welches Wort man vielleicht durch Lehrſpruͤche uͤberſetzen koͤnte). Aber unter den gedachten zweien Arten ſyntheti- ſcher Saͤtze a priori koͤnnen, nach dem gewoͤhnlichen Rede- gebrauch, nur die, zum philoſophiſchen Erkentniſſe gehoͤ- rige dieſen Nahmen fuͤhren, und man wuͤrde ſchwerlich die Saͤtze der Rechenkunſt, oder Geometrie Dogmata nen- nen. Alſo beſtaͤtigt dieſer Gebrauch die Erklaͤrung, die wir gaben, daß nur Urtheile aus Begriffen und nicht die, aus der Conſtruction der Begriffe, dogmatiſch heiſſen koͤnnen.
Nun enthaͤlt die ganze reine Vernunft in ihrem blos ſpeculativen Gebrauche nicht ein einziges directſynthe- tiſches Urtheil aus Begriffen. Denn durch Ideen iſt ſie, wie wir gezeigt haben, gar keiner ſynthetiſcher Urtheile, die obiective Guͤltigkeit haͤtten, faͤhig; durch Verſtandes-
begriffe
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0766"n="736"/><fwplace="top"type="header">Methodenlehre <hirendition="#aq">I.</hi> Hauptſt. <hirendition="#aq">I.</hi> Abſch.</fw><lb/>
uͤberſehen worden und es noͤthig machen, ſie entweder<lb/>
mehr zu beſtimmen, oder ganz abzuaͤndern.</p><lb/><p>Ich theile alle apodictiſche Saͤtze (ſie moͤgen nun er-<lb/>
weislich oder auch unmittelbar gewiß ſeyn) in <hirendition="#fr">Dogmata</hi><lb/>
und <hirendition="#fr">Mathemata</hi> ein. Ein directſynthetiſcher Satz aus<lb/>
Begriffen iſt ein <hirendition="#fr">Dogma</hi>, dagegen ein dergleichen Satz,<lb/>
durch Conſtruction der Begriffe, iſt ein <hirendition="#fr">Mathema</hi>. Ana-<lb/>
lytiſche Urtheile lehren uns eigentlich nichts <hirendition="#fr">mehr</hi> vom Ge-<lb/>
genſtande, als was der Begriff, den wir von ihm haben,<lb/>ſchon in ſich enthaͤlt, weil ſie die Erkentniß uͤber den Be-<lb/>
griff des Subiects nicht erweitern, ſondern dieſen nur er-<lb/>
laͤutern. Sie koͤnnen daher nicht fuͤglich Dogmen heiſſen<lb/>
(welches Wort man vielleicht durch Lehrſpruͤche uͤberſetzen<lb/>
koͤnte). Aber unter den gedachten zweien Arten ſyntheti-<lb/>ſcher Saͤtze <hirendition="#aq">a priori</hi> koͤnnen, nach dem gewoͤhnlichen Rede-<lb/>
gebrauch, nur die, zum philoſophiſchen Erkentniſſe gehoͤ-<lb/>
rige dieſen Nahmen fuͤhren, und man wuͤrde ſchwerlich<lb/>
die Saͤtze der Rechenkunſt, oder Geometrie Dogmata nen-<lb/>
nen. Alſo beſtaͤtigt dieſer Gebrauch die Erklaͤrung, die<lb/>
wir gaben, daß nur Urtheile aus Begriffen und nicht die,<lb/>
aus der Conſtruction der Begriffe, dogmatiſch heiſſen<lb/>
koͤnnen.</p><lb/><p>Nun enthaͤlt die ganze reine Vernunft in ihrem blos<lb/>ſpeculativen Gebrauche nicht ein einziges directſynthe-<lb/>
tiſches Urtheil aus Begriffen. Denn durch Ideen iſt ſie,<lb/>
wie wir gezeigt haben, gar keiner ſynthetiſcher Urtheile,<lb/>
die obiective Guͤltigkeit haͤtten, faͤhig; durch Verſtandes-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">begriffe</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[736/0766]
Methodenlehre I. Hauptſt. I. Abſch.
uͤberſehen worden und es noͤthig machen, ſie entweder
mehr zu beſtimmen, oder ganz abzuaͤndern.
Ich theile alle apodictiſche Saͤtze (ſie moͤgen nun er-
weislich oder auch unmittelbar gewiß ſeyn) in Dogmata
und Mathemata ein. Ein directſynthetiſcher Satz aus
Begriffen iſt ein Dogma, dagegen ein dergleichen Satz,
durch Conſtruction der Begriffe, iſt ein Mathema. Ana-
lytiſche Urtheile lehren uns eigentlich nichts mehr vom Ge-
genſtande, als was der Begriff, den wir von ihm haben,
ſchon in ſich enthaͤlt, weil ſie die Erkentniß uͤber den Be-
griff des Subiects nicht erweitern, ſondern dieſen nur er-
laͤutern. Sie koͤnnen daher nicht fuͤglich Dogmen heiſſen
(welches Wort man vielleicht durch Lehrſpruͤche uͤberſetzen
koͤnte). Aber unter den gedachten zweien Arten ſyntheti-
ſcher Saͤtze a priori koͤnnen, nach dem gewoͤhnlichen Rede-
gebrauch, nur die, zum philoſophiſchen Erkentniſſe gehoͤ-
rige dieſen Nahmen fuͤhren, und man wuͤrde ſchwerlich
die Saͤtze der Rechenkunſt, oder Geometrie Dogmata nen-
nen. Alſo beſtaͤtigt dieſer Gebrauch die Erklaͤrung, die
wir gaben, daß nur Urtheile aus Begriffen und nicht die,
aus der Conſtruction der Begriffe, dogmatiſch heiſſen
koͤnnen.
Nun enthaͤlt die ganze reine Vernunft in ihrem blos
ſpeculativen Gebrauche nicht ein einziges directſynthe-
tiſches Urtheil aus Begriffen. Denn durch Ideen iſt ſie,
wie wir gezeigt haben, gar keiner ſynthetiſcher Urtheile,
die obiective Guͤltigkeit haͤtten, faͤhig; durch Verſtandes-
begriffe
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 736. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/766>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.