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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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Methodenlehre I. Hauptst. II. Absch.
Natur komt, eine Anlage zu guten Zwecken enthalten muß,
nemlich eine Neigung, seine wahre Gesinnungen zu verhee-
len und gewisse angenommene, die man vor gut und rühm-
lich hält, zur Schau zu tragen. Ganz gewiß haben die
Menschen durch diesen Hang, so wol sich zu verheelen, als
auch einen ihnen vortheilhaften Schein anzunehmen, sich
nicht blos civilisirt, sondern nach und nach, in gewisser
Maasse, moralisirt, weil keiner durch die Schmincke der
Anständigkeit, Ehrbarkeit und Sittsamkeit durchdringen
konte, also an vermeintlich ächten Beispielen des Guten,
die er um sich sahe, eine Schule der Besserung vor sich
selbst fand. Allein diese Anlage, sich besser zu stellen, als
man ist und Gesinnungen zu äussern, die man nicht hat,
dient nur gleichsam provisorisch dazu, um den Menschen
aus der Rohigkeit zu bringen und ihn zuerst wenigstens
die Manier des Guten, das er kent, annehmen zu lassen;
denn nachher, wenn die ächte Grundsätze einmal entwickelt
und in die Denkungsart übergegangen sind, so muß iene
Falschheit nach und nach kräftig bekämpft werden, weil
sie sonst das Herz verdirbt und gute Gesinnungen, unter
dem Wucherkraute des schönen Scheins, nicht aufkom-
men läßt.

Es thut mir leid, eben dieselbe Unlauterkeit, Ver-
stellung und Heucheley so gar in den Aeusserungen der spe-
culativen Denkungsart wahrzunehmen, worin doch Men-
schen, das Geständniß ihrer Gedanken billiger Maassen offen
und unverholen zu entdecken, weit weniger Hindernisse und

gar

Methodenlehre I. Hauptſt. II. Abſch.
Natur komt, eine Anlage zu guten Zwecken enthalten muß,
nemlich eine Neigung, ſeine wahre Geſinnungen zu verhee-
len und gewiſſe angenommene, die man vor gut und ruͤhm-
lich haͤlt, zur Schau zu tragen. Ganz gewiß haben die
Menſchen durch dieſen Hang, ſo wol ſich zu verheelen, als
auch einen ihnen vortheilhaften Schein anzunehmen, ſich
nicht blos civiliſirt, ſondern nach und nach, in gewiſſer
Maaſſe, moraliſirt, weil keiner durch die Schmincke der
Anſtaͤndigkeit, Ehrbarkeit und Sittſamkeit durchdringen
konte, alſo an vermeintlich aͤchten Beiſpielen des Guten,
die er um ſich ſahe, eine Schule der Beſſerung vor ſich
ſelbſt fand. Allein dieſe Anlage, ſich beſſer zu ſtellen, als
man iſt und Geſinnungen zu aͤuſſern, die man nicht hat,
dient nur gleichſam proviſoriſch dazu, um den Menſchen
aus der Rohigkeit zu bringen und ihn zuerſt wenigſtens
die Manier des Guten, das er kent, annehmen zu laſſen;
denn nachher, wenn die aͤchte Grundſaͤtze einmal entwickelt
und in die Denkungsart uͤbergegangen ſind, ſo muß iene
Falſchheit nach und nach kraͤftig bekaͤmpft werden, weil
ſie ſonſt das Herz verdirbt und gute Geſinnungen, unter
dem Wucherkraute des ſchoͤnen Scheins, nicht aufkom-
men laͤßt.

Es thut mir leid, eben dieſelbe Unlauterkeit, Ver-
ſtellung und Heucheley ſo gar in den Aeuſſerungen der ſpe-
culativen Denkungsart wahrzunehmen, worin doch Men-
ſchen, das Geſtaͤndniß ihrer Gedanken billiger Maaſſen offen
und unverholen zu entdecken, weit weniger Hinderniſſe und

gar
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[748/0778] Methodenlehre I. Hauptſt. II. Abſch. Natur komt, eine Anlage zu guten Zwecken enthalten muß, nemlich eine Neigung, ſeine wahre Geſinnungen zu verhee- len und gewiſſe angenommene, die man vor gut und ruͤhm- lich haͤlt, zur Schau zu tragen. Ganz gewiß haben die Menſchen durch dieſen Hang, ſo wol ſich zu verheelen, als auch einen ihnen vortheilhaften Schein anzunehmen, ſich nicht blos civiliſirt, ſondern nach und nach, in gewiſſer Maaſſe, moraliſirt, weil keiner durch die Schmincke der Anſtaͤndigkeit, Ehrbarkeit und Sittſamkeit durchdringen konte, alſo an vermeintlich aͤchten Beiſpielen des Guten, die er um ſich ſahe, eine Schule der Beſſerung vor ſich ſelbſt fand. Allein dieſe Anlage, ſich beſſer zu ſtellen, als man iſt und Geſinnungen zu aͤuſſern, die man nicht hat, dient nur gleichſam proviſoriſch dazu, um den Menſchen aus der Rohigkeit zu bringen und ihn zuerſt wenigſtens die Manier des Guten, das er kent, annehmen zu laſſen; denn nachher, wenn die aͤchte Grundſaͤtze einmal entwickelt und in die Denkungsart uͤbergegangen ſind, ſo muß iene Falſchheit nach und nach kraͤftig bekaͤmpft werden, weil ſie ſonſt das Herz verdirbt und gute Geſinnungen, unter dem Wucherkraute des ſchoͤnen Scheins, nicht aufkom- men laͤßt. Es thut mir leid, eben dieſelbe Unlauterkeit, Ver- ſtellung und Heucheley ſo gar in den Aeuſſerungen der ſpe- culativen Denkungsart wahrzunehmen, worin doch Men- ſchen, das Geſtaͤndniß ihrer Gedanken billiger Maaſſen offen und unverholen zu entdecken, weit weniger Hinderniſſe und gar

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 748. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/778>, abgerufen am 22.11.2024.