gründe einer blossen Speculation alles ehrlich zugehen müsse, ist wol das Wenigste, was man fodern kan. Könte man aber auch nur auf dieses Wenige sicher rechnen, so wäre der Streit der speculativen Vernunft über die wichtigen Fragen von Gott, der Unsterblichkeit (der Seele) und der Freiheit, entweder längst entschieden, oder würde sehr bald zu Ende gebracht werden. So steht öfters die Lau- terkeit der Gesinnung im umgekehrten Verhältnisse der Gut- artigkeit der Sache selbst und diese hat vielleicht mehr auf- richtige und redliche Gegner, als Vertheidiger.
Ich setze also Leser voraus, die keine gerechte Sache mit Unrecht vertheidigt wissen wollen. In Ansehung de- ren ist es nun entschieden, daß, nach unseren Grundsätzen der Critik, wenn man nicht auf dasienige sieht, was ge- schieht, sondern was billig geschehen sollte, es eigentlich gar keine Polemik der reinen Vernunft geben müsse. Denn wie können zwey Personen einen Streit über eine Sache führen, deren Realität keiner von beiden in einer wirkli- chen, oder auch nur möglichen Erfahrung darstellen kan, über deren Idee er allein brütet, um aus ihr etwas mehr als Idee, nemlich, die Wirklichkeit des Gegenstandes selbst heraus zu bringen? Durch welches Mittel wollen sie aus dem Streite heraus kommen, da keiner von beiden seine Sache geradezu begreiflich und gewiß machen, sondern nur die seines Gegners angreifen und widerlegen kan? Denn dieses ist das Schicksal aller Behauptungen der rei-
nen
Methodenlehre I. Hauptſt. II. Abſch.
gruͤnde einer bloſſen Speculation alles ehrlich zugehen muͤſſe, iſt wol das Wenigſte, was man fodern kan. Koͤnte man aber auch nur auf dieſes Wenige ſicher rechnen, ſo waͤre der Streit der ſpeculativen Vernunft uͤber die wichtigen Fragen von Gott, der Unſterblichkeit (der Seele) und der Freiheit, entweder laͤngſt entſchieden, oder wuͤrde ſehr bald zu Ende gebracht werden. So ſteht oͤfters die Lau- terkeit der Geſinnung im umgekehrten Verhaͤltniſſe der Gut- artigkeit der Sache ſelbſt und dieſe hat vielleicht mehr auf- richtige und redliche Gegner, als Vertheidiger.
Ich ſetze alſo Leſer voraus, die keine gerechte Sache mit Unrecht vertheidigt wiſſen wollen. In Anſehung de- ren iſt es nun entſchieden, daß, nach unſeren Grundſaͤtzen der Critik, wenn man nicht auf dasienige ſieht, was ge- ſchieht, ſondern was billig geſchehen ſollte, es eigentlich gar keine Polemik der reinen Vernunft geben muͤſſe. Denn wie koͤnnen zwey Perſonen einen Streit uͤber eine Sache fuͤhren, deren Realitaͤt keiner von beiden in einer wirkli- chen, oder auch nur moͤglichen Erfahrung darſtellen kan, uͤber deren Idee er allein bruͤtet, um aus ihr etwas mehr als Idee, nemlich, die Wirklichkeit des Gegenſtandes ſelbſt heraus zu bringen? Durch welches Mittel wollen ſie aus dem Streite heraus kommen, da keiner von beiden ſeine Sache geradezu begreiflich und gewiß machen, ſondern nur die ſeines Gegners angreifen und widerlegen kan? Denn dieſes iſt das Schickſal aller Behauptungen der rei-
nen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0780"n="750"/><fwplace="top"type="header">Methodenlehre <hirendition="#aq">I.</hi> Hauptſt. <hirendition="#aq">II.</hi> Abſch.</fw><lb/>
gruͤnde einer bloſſen Speculation alles ehrlich zugehen muͤſſe,<lb/>
iſt wol das Wenigſte, was man fodern kan. Koͤnte man<lb/>
aber auch nur auf dieſes Wenige ſicher rechnen, ſo waͤre<lb/>
der Streit der ſpeculativen Vernunft uͤber die wichtigen<lb/>
Fragen von Gott, der Unſterblichkeit (der Seele) und der<lb/>
Freiheit, entweder laͤngſt entſchieden, oder wuͤrde ſehr<lb/>
bald zu Ende gebracht werden. So ſteht oͤfters die Lau-<lb/>
terkeit der Geſinnung im umgekehrten Verhaͤltniſſe der Gut-<lb/>
artigkeit der Sache ſelbſt und dieſe hat vielleicht mehr auf-<lb/>
richtige und redliche Gegner, als Vertheidiger.</p><lb/><p>Ich ſetze alſo Leſer voraus, die keine gerechte Sache<lb/>
mit Unrecht vertheidigt wiſſen wollen. In Anſehung de-<lb/>
ren iſt es nun entſchieden, daß, nach unſeren Grundſaͤtzen<lb/>
der Critik, wenn man nicht auf dasienige ſieht, was ge-<lb/>ſchieht, ſondern was billig geſchehen ſollte, es eigentlich<lb/>
gar keine Polemik der reinen Vernunft geben muͤſſe. Denn<lb/>
wie koͤnnen zwey Perſonen einen Streit uͤber eine Sache<lb/>
fuͤhren, deren Realitaͤt keiner von beiden in einer wirkli-<lb/>
chen, oder auch nur moͤglichen Erfahrung darſtellen kan,<lb/>
uͤber deren Idee er allein bruͤtet, um aus ihr etwas mehr<lb/>
als Idee, nemlich, die Wirklichkeit des Gegenſtandes ſelbſt<lb/>
heraus zu bringen? Durch welches Mittel wollen ſie aus<lb/>
dem Streite heraus kommen, da keiner von beiden ſeine<lb/>
Sache geradezu begreiflich und gewiß machen, ſondern<lb/>
nur die ſeines Gegners angreifen und widerlegen kan?<lb/>
Denn dieſes iſt das Schickſal aller Behauptungen der rei-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">nen</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[750/0780]
Methodenlehre I. Hauptſt. II. Abſch.
gruͤnde einer bloſſen Speculation alles ehrlich zugehen muͤſſe,
iſt wol das Wenigſte, was man fodern kan. Koͤnte man
aber auch nur auf dieſes Wenige ſicher rechnen, ſo waͤre
der Streit der ſpeculativen Vernunft uͤber die wichtigen
Fragen von Gott, der Unſterblichkeit (der Seele) und der
Freiheit, entweder laͤngſt entſchieden, oder wuͤrde ſehr
bald zu Ende gebracht werden. So ſteht oͤfters die Lau-
terkeit der Geſinnung im umgekehrten Verhaͤltniſſe der Gut-
artigkeit der Sache ſelbſt und dieſe hat vielleicht mehr auf-
richtige und redliche Gegner, als Vertheidiger.
Ich ſetze alſo Leſer voraus, die keine gerechte Sache
mit Unrecht vertheidigt wiſſen wollen. In Anſehung de-
ren iſt es nun entſchieden, daß, nach unſeren Grundſaͤtzen
der Critik, wenn man nicht auf dasienige ſieht, was ge-
ſchieht, ſondern was billig geſchehen ſollte, es eigentlich
gar keine Polemik der reinen Vernunft geben muͤſſe. Denn
wie koͤnnen zwey Perſonen einen Streit uͤber eine Sache
fuͤhren, deren Realitaͤt keiner von beiden in einer wirkli-
chen, oder auch nur moͤglichen Erfahrung darſtellen kan,
uͤber deren Idee er allein bruͤtet, um aus ihr etwas mehr
als Idee, nemlich, die Wirklichkeit des Gegenſtandes ſelbſt
heraus zu bringen? Durch welches Mittel wollen ſie aus
dem Streite heraus kommen, da keiner von beiden ſeine
Sache geradezu begreiflich und gewiß machen, ſondern
nur die ſeines Gegners angreifen und widerlegen kan?
Denn dieſes iſt das Schickſal aller Behauptungen der rei-
nen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 750. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/780>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.