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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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Die Disciplin der reinen Vernunft im polem. etc.
nen Vernunft: daß, da sie über die Bedingungen aller
möglichen Erfahrung hinausgehen, ausserhalb welchen kein
Document der Wahrheit irgendwo angetroffen wird, sich
aber gleichwol der Verstandesgesetze, die blos zum em-
pirischen Gebrauch bestimt sind, ohne die sich aber kein
Schritt im synthetischen Denken thun läßt, bedienen müs-
sen, sie dem Gegner iederzeit Blössen geben und sich ge-
genseitig die Blösse ihres Gegners zu Nutzen machen
können.

Man kan die Critik der reinen Vernunft als den
wahren Gerichtshof vor alle Streitigkeiten derselben anse-
hen; denn sie ist in die leztere, als welche auf Obiecte
unmittelbar gehen, nicht mit verwickelt, sondern ist dazu
gesezt, die Rechtsame der Vernunft überhaupt nach den
Grundsätzen ihrer ersten Institution zu bestimmen und zu
beurtheilen.

Ohne dieselbe ist die Vernunft gleichsam im Stande
der Natur und kan ihre Behauptungen und Ansprüche nicht
anders geltend machen, oder sichern, als durch Krieg.
Die Critik dagegen, welche alle Entscheidungen aus den
Grundregeln ihrer eigenen Einsetzung hernimt, deren An-
sehen keiner bezweifeln kan, verschaft uns die Ruhe eines
gesezlichen Zustandes, in welchem wir unsere Streitigkeit
nicht anders führen sollen, als durch Proceß. Was die
Händel in dem ersten Zustande endigt, ist ein Sieg, dessen
sich beide Theile rühmen, auf den mehrentheils ein nur
unsicherer Friede folgt, den die Obrigkeit stiftet, welche sich

ins

Die Diſciplin der reinen Vernunft im polem. ꝛc.
nen Vernunft: daß, da ſie uͤber die Bedingungen aller
moͤglichen Erfahrung hinausgehen, auſſerhalb welchen kein
Document der Wahrheit irgendwo angetroffen wird, ſich
aber gleichwol der Verſtandesgeſetze, die blos zum em-
piriſchen Gebrauch beſtimt ſind, ohne die ſich aber kein
Schritt im ſynthetiſchen Denken thun laͤßt, bedienen muͤſ-
ſen, ſie dem Gegner iederzeit Bloͤſſen geben und ſich ge-
genſeitig die Bloͤſſe ihres Gegners zu Nutzen machen
koͤnnen.

Man kan die Critik der reinen Vernunft als den
wahren Gerichtshof vor alle Streitigkeiten derſelben anſe-
hen; denn ſie iſt in die leztere, als welche auf Obiecte
unmittelbar gehen, nicht mit verwickelt, ſondern iſt dazu
geſezt, die Rechtſame der Vernunft uͤberhaupt nach den
Grundſaͤtzen ihrer erſten Inſtitution zu beſtimmen und zu
beurtheilen.

Ohne dieſelbe iſt die Vernunft gleichſam im Stande
der Natur und kan ihre Behauptungen und Anſpruͤche nicht
anders geltend machen, oder ſichern, als durch Krieg.
Die Critik dagegen, welche alle Entſcheidungen aus den
Grundregeln ihrer eigenen Einſetzung hernimt, deren An-
ſehen keiner bezweifeln kan, verſchaft uns die Ruhe eines
geſezlichen Zuſtandes, in welchem wir unſere Streitigkeit
nicht anders fuͤhren ſollen, als durch Proceß. Was die
Haͤndel in dem erſten Zuſtande endigt, iſt ein Sieg, deſſen
ſich beide Theile ruͤhmen, auf den mehrentheils ein nur
unſicherer Friede folgt, den die Obrigkeit ſtiftet, welche ſich

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[751/0781] Die Diſciplin der reinen Vernunft im polem. ꝛc. nen Vernunft: daß, da ſie uͤber die Bedingungen aller moͤglichen Erfahrung hinausgehen, auſſerhalb welchen kein Document der Wahrheit irgendwo angetroffen wird, ſich aber gleichwol der Verſtandesgeſetze, die blos zum em- piriſchen Gebrauch beſtimt ſind, ohne die ſich aber kein Schritt im ſynthetiſchen Denken thun laͤßt, bedienen muͤſ- ſen, ſie dem Gegner iederzeit Bloͤſſen geben und ſich ge- genſeitig die Bloͤſſe ihres Gegners zu Nutzen machen koͤnnen. Man kan die Critik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof vor alle Streitigkeiten derſelben anſe- hen; denn ſie iſt in die leztere, als welche auf Obiecte unmittelbar gehen, nicht mit verwickelt, ſondern iſt dazu geſezt, die Rechtſame der Vernunft uͤberhaupt nach den Grundſaͤtzen ihrer erſten Inſtitution zu beſtimmen und zu beurtheilen. Ohne dieſelbe iſt die Vernunft gleichſam im Stande der Natur und kan ihre Behauptungen und Anſpruͤche nicht anders geltend machen, oder ſichern, als durch Krieg. Die Critik dagegen, welche alle Entſcheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen Einſetzung hernimt, deren An- ſehen keiner bezweifeln kan, verſchaft uns die Ruhe eines geſezlichen Zuſtandes, in welchem wir unſere Streitigkeit nicht anders fuͤhren ſollen, als durch Proceß. Was die Haͤndel in dem erſten Zuſtande endigt, iſt ein Sieg, deſſen ſich beide Theile ruͤhmen, auf den mehrentheils ein nur unſicherer Friede folgt, den die Obrigkeit ſtiftet, welche ſich ins

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 751. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/781>, abgerufen am 22.11.2024.