nicht führen könte. Der Gegner soll also beweisen. Da dieser aber eben so wenig etwas von dem bezweifelten Ge- genstande weis, um dessen Nichtseyn darzuthun, als der erstere, der dessen Wirklichkeit behauptet: so zeigt sich hier ein Vortheil auf der Seite desienigen, der etwas als practischnothwendige Voraussetzung behauptet (melior est conditio possidentis). Es steht ihm nemlich frey, sich gleichsam aus Nothwehr eben derselben Mittel vor seine gute Sache, als der Gegner wider dieselbe, d. i. der Hy- pothesen zu bedienen, die gar nicht dazu dienen sollen, um den Beweis derselben zu verstärken, sondern nur zu zei- gen, daß der Gegner viel zu wenig von dem Gegenstande des Streits verstehe, als daß er sich eines Vortheils der speculativen Einsicht in Ansehung unserer schmeicheln könne.
Hypothesen sind also im Felde der reinen Vernunft nur als Kriegswaffen erlaubt, nicht um darauf ein Recht zu gründen, sondern nur es zu vertheidigen. Den Geg- ner aber müssen wir hier iederzeit in uns selbst suchen. Denn speculative Vernunft in ihrem transscendentalen Gebrauche ist an sich dialectisch. Die Einwürfe, die zu fürchten seyn möchten, liegen in uns selbst. Wir müssen sie, gleich alten, aber niemals veriährenden Ansprüchen, her- vorsuchen, um einen ewigen Frieden auf deren Vernichti- gung zu gründen. Aeussere Ruhe ist nur scheinbar. Der Keim der Anfechtungen, der in der Natur der Menschen- vernunft liegt, muß ausgerottet werden; wie können wir
ihn
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Die Diſciplin d. r. Vernunft in Hypotheſen.
nicht fuͤhren koͤnte. Der Gegner ſoll alſo beweiſen. Da dieſer aber eben ſo wenig etwas von dem bezweifelten Ge- genſtande weis, um deſſen Nichtſeyn darzuthun, als der erſtere, der deſſen Wirklichkeit behauptet: ſo zeigt ſich hier ein Vortheil auf der Seite desienigen, der etwas als practiſchnothwendige Vorausſetzung behauptet (melior eſt conditio poſſidentis). Es ſteht ihm nemlich frey, ſich gleichſam aus Nothwehr eben derſelben Mittel vor ſeine gute Sache, als der Gegner wider dieſelbe, d. i. der Hy- potheſen zu bedienen, die gar nicht dazu dienen ſollen, um den Beweis derſelben zu verſtaͤrken, ſondern nur zu zei- gen, daß der Gegner viel zu wenig von dem Gegenſtande des Streits verſtehe, als daß er ſich eines Vortheils der ſpeculativen Einſicht in Anſehung unſerer ſchmeicheln koͤnne.
Hypotheſen ſind alſo im Felde der reinen Vernunft nur als Kriegswaffen erlaubt, nicht um darauf ein Recht zu gruͤnden, ſondern nur es zu vertheidigen. Den Geg- ner aber muͤſſen wir hier iederzeit in uns ſelbſt ſuchen. Denn ſpeculative Vernunft in ihrem transſcendentalen Gebrauche iſt an ſich dialectiſch. Die Einwuͤrfe, die zu fuͤrchten ſeyn moͤchten, liegen in uns ſelbſt. Wir muͤſſen ſie, gleich alten, aber niemals veriaͤhrenden Anſpruͤchen, her- vorſuchen, um einen ewigen Frieden auf deren Vernichti- gung zu gruͤnden. Aeuſſere Ruhe iſt nur ſcheinbar. Der Keim der Anfechtungen, der in der Natur der Menſchen- vernunft liegt, muß ausgerottet werden; wie koͤnnen wir
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Die Diſciplin d. r. Vernunft in Hypotheſen.
nicht fuͤhren koͤnte. Der Gegner ſoll alſo beweiſen. Da
dieſer aber eben ſo wenig etwas von dem bezweifelten Ge-
genſtande weis, um deſſen Nichtſeyn darzuthun, als der
erſtere, der deſſen Wirklichkeit behauptet: ſo zeigt ſich
hier ein Vortheil auf der Seite desienigen, der etwas als
practiſchnothwendige Vorausſetzung behauptet (melior eſt
conditio poſſidentis). Es ſteht ihm nemlich frey, ſich
gleichſam aus Nothwehr eben derſelben Mittel vor ſeine
gute Sache, als der Gegner wider dieſelbe, d. i. der Hy-
potheſen zu bedienen, die gar nicht dazu dienen ſollen, um
den Beweis derſelben zu verſtaͤrken, ſondern nur zu zei-
gen, daß der Gegner viel zu wenig von dem Gegenſtande
des Streits verſtehe, als daß er ſich eines Vortheils der
ſpeculativen Einſicht in Anſehung unſerer ſchmeicheln
koͤnne.
Hypotheſen ſind alſo im Felde der reinen Vernunft
nur als Kriegswaffen erlaubt, nicht um darauf ein Recht
zu gruͤnden, ſondern nur es zu vertheidigen. Den Geg-
ner aber muͤſſen wir hier iederzeit in uns ſelbſt ſuchen. Denn
ſpeculative Vernunft in ihrem transſcendentalen Gebrauche
iſt an ſich dialectiſch. Die Einwuͤrfe, die zu fuͤrchten
ſeyn moͤchten, liegen in uns ſelbſt. Wir muͤſſen ſie,
gleich alten, aber niemals veriaͤhrenden Anſpruͤchen, her-
vorſuchen, um einen ewigen Frieden auf deren Vernichti-
gung zu gruͤnden. Aeuſſere Ruhe iſt nur ſcheinbar. Der
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 777. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/807>, abgerufen am 22.11.2024.
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