intelligibel sey, den Zeitveränderungen gar nicht unter- worfen und weder durch Geburt angefangen habe, noch durch den Tod geendigt werde. Daß dieses Leben nichts als eine blosse Erscheinung, d. i. eine sinnliche Vorstellung von dem reinen geistigen Leben und die ganze Sinnenwelt ein blosses Bild sey, welches unserer iezigen Erkentnißart vor- schwebt und, wie ein Traum, an sich keine obiective Rea- lität habe: daß, wenn wir die Sachen und uns selbst an- schauen sollen, wie sie sind, wir uns in einer Welt geisti- ger Naturen sehen würden, mit welcher unsere einzig- wahre Gemeinschaft weder durch Geburt angefangen habe, noch durch den Leibestod (als blosse Erscheinungen) auf- hören werde, u. s. w.
Ob wir nun gleich von allem diesem, was wir hier wider den Angriff hypothetisch vorschützen, nicht das Min- deste wissen, noch im Ernste behaupten, sondern alles nicht einmal Vernunftidee, sondern blos zur Gegenwehr aus- gedachter Begriff ist, so verfahren wir doch hiebey ganz vernunftmässig, indem wir dem Gegner, welcher alle Mög- lichkeit erschöpft zu haben meint, indem er den Mangel ihrer empirischen Bedingungen vor einen Beweis der gänzlichen Unmöglichkeit, des von uns Geglaubten, fälsch- lich ausgiebt, nur zeigen: daß er eben so wenig durch blos- se Erfahrungsgesetze das ganze Feld möglicher Dinge an sich selbst umspannen, als wir ausserhalb der Erfahrung vor unsere Vernunft irgend etwas auf gegründete Art er- werben können. Der solche hypothetische Gegenmittel wi-
der
Methodenlehre I. Hauptſt. III. Abſch.
intelligibel ſey, den Zeitveraͤnderungen gar nicht unter- worfen und weder durch Geburt angefangen habe, noch durch den Tod geendigt werde. Daß dieſes Leben nichts als eine bloſſe Erſcheinung, d. i. eine ſinnliche Vorſtellung von dem reinen geiſtigen Leben und die ganze Sinnenwelt ein bloſſes Bild ſey, welches unſerer iezigen Erkentnißart vor- ſchwebt und, wie ein Traum, an ſich keine obiective Rea- litaͤt habe: daß, wenn wir die Sachen und uns ſelbſt an- ſchauen ſollen, wie ſie ſind, wir uns in einer Welt geiſti- ger Naturen ſehen wuͤrden, mit welcher unſere einzig- wahre Gemeinſchaft weder durch Geburt angefangen habe, noch durch den Leibestod (als bloſſe Erſcheinungen) auf- hoͤren werde, u. ſ. w.
Ob wir nun gleich von allem dieſem, was wir hier wider den Angriff hypothetiſch vorſchuͤtzen, nicht das Min- deſte wiſſen, noch im Ernſte behaupten, ſondern alles nicht einmal Vernunftidee, ſondern blos zur Gegenwehr aus- gedachter Begriff iſt, ſo verfahren wir doch hiebey ganz vernunftmaͤſſig, indem wir dem Gegner, welcher alle Moͤg- lichkeit erſchoͤpft zu haben meint, indem er den Mangel ihrer empiriſchen Bedingungen vor einen Beweis der gaͤnzlichen Unmoͤglichkeit, des von uns Geglaubten, faͤlſch- lich ausgiebt, nur zeigen: daß er eben ſo wenig durch bloſ- ſe Erfahrungsgeſetze das ganze Feld moͤglicher Dinge an ſich ſelbſt umſpannen, als wir auſſerhalb der Erfahrung vor unſere Vernunft irgend etwas auf gegruͤndete Art er- werben koͤnnen. Der ſolche hypothetiſche Gegenmittel wi-
der
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Methodenlehre I. Hauptſt. III. Abſch.
intelligibel ſey, den Zeitveraͤnderungen gar nicht unter-
worfen und weder durch Geburt angefangen habe, noch
durch den Tod geendigt werde. Daß dieſes Leben nichts
als eine bloſſe Erſcheinung, d. i. eine ſinnliche Vorſtellung
von dem reinen geiſtigen Leben und die ganze Sinnenwelt
ein bloſſes Bild ſey, welches unſerer iezigen Erkentnißart vor-
ſchwebt und, wie ein Traum, an ſich keine obiective Rea-
litaͤt habe: daß, wenn wir die Sachen und uns ſelbſt an-
ſchauen ſollen, wie ſie ſind, wir uns in einer Welt geiſti-
ger Naturen ſehen wuͤrden, mit welcher unſere einzig-
wahre Gemeinſchaft weder durch Geburt angefangen habe,
noch durch den Leibestod (als bloſſe Erſcheinungen) auf-
hoͤren werde, u. ſ. w.
Ob wir nun gleich von allem dieſem, was wir hier
wider den Angriff hypothetiſch vorſchuͤtzen, nicht das Min-
deſte wiſſen, noch im Ernſte behaupten, ſondern alles nicht
einmal Vernunftidee, ſondern blos zur Gegenwehr aus-
gedachter Begriff iſt, ſo verfahren wir doch hiebey ganz
vernunftmaͤſſig, indem wir dem Gegner, welcher alle Moͤg-
lichkeit erſchoͤpft zu haben meint, indem er den Mangel
ihrer empiriſchen Bedingungen vor einen Beweis der
gaͤnzlichen Unmoͤglichkeit, des von uns Geglaubten, faͤlſch-
lich ausgiebt, nur zeigen: daß er eben ſo wenig durch bloſ-
ſe Erfahrungsgeſetze das ganze Feld moͤglicher Dinge an
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 780. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/810>, abgerufen am 22.11.2024.
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