da gilt die Regel: non entis nulla sunt praedicata, d. i. sowol was man beiahend, als was man verneinend von dem Gegenstande behauptete, ist beides unrichtig und man kan nicht apogogisch durch die Widerlegung des Ge- gentheils zur Erkentniß der Wahrheit gelangen. So wie zum Beispiel, wenn vorausgesezt wird: daß die Sinnen- welt an sich selbst ihrer Totalität nach gegeben sey, so ist es falsch, daß sie entweder unendlich dem Raume nach, oder endlich und begränzt seyn müsse, darum, weil beides falsch ist. Denn Erscheinungen (als blosse Vorstellungen), die doch an sich selbst (als Obiecte) gegeben wären, sind etwas Unmögliches und die Unendlichkeit dieses eingebilde- ten Ganzen würde zwar unbedingt seyn, widerspräche aber (weil alles an Erscheinungen bedingt ist) der unbe- dingten Grössenbestimmung, die doch im Begriffe voraus- gesezt wird.
Die apogogische Beweisart ist auch das eigentliche Blendwerk, womit die Bewunderer der Gründlichkeit un- serer dogmatischen Vernünftler iederzeit hingehalten wor- den: sie ist gleichsam der Champion, der die Ehre und das unstreitige Recht seiner genommenen Parthey dadurch beweisen will, daß er sich mit iederman zu raufen anhei- schig macht, der es bezweifeln wolte, obgleich durch solche Großsprecherey nichts in der Sache, sondern nur der re- spectiven Stärke der Gegner ausgemacht wird, und zwar auch nur auf der Seite desienigen, der sich angreifend verhält. Die Zuschauer, indem sie sehen, daß ein ieder
in
D d d 5
Die Diſciplin d. r. Vernunft in Beweiſen
da gilt die Regel: non entis nulla ſunt praedicata, d. i. ſowol was man beiahend, als was man verneinend von dem Gegenſtande behauptete, iſt beides unrichtig und man kan nicht apogogiſch durch die Widerlegung des Ge- gentheils zur Erkentniß der Wahrheit gelangen. So wie zum Beiſpiel, wenn vorausgeſezt wird: daß die Sinnen- welt an ſich ſelbſt ihrer Totalitaͤt nach gegeben ſey, ſo iſt es falſch, daß ſie entweder unendlich dem Raume nach, oder endlich und begraͤnzt ſeyn muͤſſe, darum, weil beides falſch iſt. Denn Erſcheinungen (als bloſſe Vorſtellungen), die doch an ſich ſelbſt (als Obiecte) gegeben waͤren, ſind etwas Unmoͤgliches und die Unendlichkeit dieſes eingebilde- ten Ganzen wuͤrde zwar unbedingt ſeyn, widerſpraͤche aber (weil alles an Erſcheinungen bedingt iſt) der unbe- dingten Groͤſſenbeſtimmung, die doch im Begriffe voraus- geſezt wird.
Die apogogiſche Beweisart iſt auch das eigentliche Blendwerk, womit die Bewunderer der Gruͤndlichkeit un- ſerer dogmatiſchen Vernuͤnftler iederzeit hingehalten wor- den: ſie iſt gleichſam der Champion, der die Ehre und das unſtreitige Recht ſeiner genommenen Parthey dadurch beweiſen will, daß er ſich mit iederman zu raufen anhei- ſchig macht, der es bezweifeln wolte, obgleich durch ſolche Großſprecherey nichts in der Sache, ſondern nur der re- ſpectiven Staͤrke der Gegner ausgemacht wird, und zwar auch nur auf der Seite desienigen, der ſich angreifend verhaͤlt. Die Zuſchauer, indem ſie ſehen, daß ein ieder
in
D d d 5
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0823"n="793"/><fwplace="top"type="header">Die Diſciplin d. r. Vernunft in Beweiſen</fw><lb/>
da gilt die Regel: <hirendition="#aq">non entis nulla ſunt praedicata,</hi><lb/>
d. i. ſowol was man beiahend, als was man verneinend<lb/>
von dem Gegenſtande behauptete, iſt beides unrichtig und<lb/>
man kan nicht apogogiſch durch die Widerlegung des Ge-<lb/>
gentheils zur Erkentniß der Wahrheit gelangen. So wie<lb/>
zum Beiſpiel, wenn vorausgeſezt wird: daß die Sinnen-<lb/>
welt <hirendition="#fr">an ſich ſelbſt</hi> ihrer Totalitaͤt nach gegeben ſey, ſo iſt<lb/>
es falſch, daß ſie <hirendition="#fr">entweder</hi> unendlich dem Raume nach,<lb/>
oder endlich und begraͤnzt ſeyn muͤſſe, darum, weil beides<lb/>
falſch iſt. Denn Erſcheinungen (als bloſſe Vorſtellungen),<lb/>
die doch <hirendition="#fr">an ſich ſelbſt</hi> (als Obiecte) gegeben waͤren, ſind<lb/>
etwas Unmoͤgliches und die Unendlichkeit dieſes eingebilde-<lb/>
ten Ganzen wuͤrde zwar unbedingt ſeyn, widerſpraͤche<lb/>
aber (weil alles an Erſcheinungen bedingt iſt) der unbe-<lb/>
dingten Groͤſſenbeſtimmung, die doch im Begriffe voraus-<lb/>
geſezt wird.</p><lb/><p>Die apogogiſche Beweisart iſt auch das eigentliche<lb/>
Blendwerk, womit die Bewunderer der Gruͤndlichkeit un-<lb/>ſerer dogmatiſchen Vernuͤnftler iederzeit hingehalten wor-<lb/>
den: ſie iſt gleichſam der Champion, der die Ehre und<lb/>
das unſtreitige Recht ſeiner genommenen Parthey dadurch<lb/>
beweiſen will, daß er ſich mit iederman zu raufen anhei-<lb/>ſchig macht, der es bezweifeln wolte, obgleich durch ſolche<lb/>
Großſprecherey nichts in der Sache, ſondern nur der re-<lb/>ſpectiven Staͤrke der Gegner ausgemacht wird, und zwar<lb/>
auch nur auf der Seite desienigen, der ſich angreifend<lb/>
verhaͤlt. Die Zuſchauer, indem ſie ſehen, daß ein ieder<lb/><fwplace="bottom"type="sig">D d d 5</fw><fwplace="bottom"type="catch">in</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[793/0823]
Die Diſciplin d. r. Vernunft in Beweiſen
da gilt die Regel: non entis nulla ſunt praedicata,
d. i. ſowol was man beiahend, als was man verneinend
von dem Gegenſtande behauptete, iſt beides unrichtig und
man kan nicht apogogiſch durch die Widerlegung des Ge-
gentheils zur Erkentniß der Wahrheit gelangen. So wie
zum Beiſpiel, wenn vorausgeſezt wird: daß die Sinnen-
welt an ſich ſelbſt ihrer Totalitaͤt nach gegeben ſey, ſo iſt
es falſch, daß ſie entweder unendlich dem Raume nach,
oder endlich und begraͤnzt ſeyn muͤſſe, darum, weil beides
falſch iſt. Denn Erſcheinungen (als bloſſe Vorſtellungen),
die doch an ſich ſelbſt (als Obiecte) gegeben waͤren, ſind
etwas Unmoͤgliches und die Unendlichkeit dieſes eingebilde-
ten Ganzen wuͤrde zwar unbedingt ſeyn, widerſpraͤche
aber (weil alles an Erſcheinungen bedingt iſt) der unbe-
dingten Groͤſſenbeſtimmung, die doch im Begriffe voraus-
geſezt wird.
Die apogogiſche Beweisart iſt auch das eigentliche
Blendwerk, womit die Bewunderer der Gruͤndlichkeit un-
ſerer dogmatiſchen Vernuͤnftler iederzeit hingehalten wor-
den: ſie iſt gleichſam der Champion, der die Ehre und
das unſtreitige Recht ſeiner genommenen Parthey dadurch
beweiſen will, daß er ſich mit iederman zu raufen anhei-
ſchig macht, der es bezweifeln wolte, obgleich durch ſolche
Großſprecherey nichts in der Sache, ſondern nur der re-
ſpectiven Staͤrke der Gegner ausgemacht wird, und zwar
auch nur auf der Seite desienigen, der ſich angreifend
verhaͤlt. Die Zuſchauer, indem ſie ſehen, daß ein ieder
in
D d d 5
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 793. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/823>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.