nichts als Schein, nur der Verstand erkent das Wahre. Darum stritten aber die ersteren den Verstandesbegriffen doch eben nicht Realität ab, sie war aber bey ihnen nur logisch, bey denen andern aber mystisch. Jene räume- ten intellectuelle Begriffe ein, aber nahmen blos sensibele Gegenstände an. Diese verlangten, daß die wahren Ge- genstände blos intelligibel wären und behaupteten eine An- schauung durch den, von keinen Sinnen begleiteten und ihrer Meinung nach nur verwirreten reinen Verstand.
2. In Ansehung des Ursprungs reiner Vernunft- erkentnisse, ob sie aus der Erfahrung abgeleitet, oder, unabhängig von ihr, in der Vernunft ihre Quelle haben. Aristoteles kan als das Haupt der Empiristen, Plato aber der Noologisten angesehen werden. Locke der in neueren Zeiten dem ersteren und Leibnitz, der dem lezteren (obzwar in einer gnugsamen Entfernung von dessen mystischem Sy- steme) folgete, haben es gleichwol in diesem Streite noch zu keiner Entscheidung bringen können. Wenigstens ver- fuhr Epikur seiner Seits viel consequenter nach seinem Sensualsystem (denn er ging mit seinen Schlüssen niemals über die Gränze der Erfahrung hinaus), als Aristoteles und Locke, (vornehmlich aber der leztere,) der, nach dem er alle Begriffe und Grundsätze von der Erfahrung abgeleitet hat- te, so weit im Gebrauche derselben geht, daß er behaup- tet: man könne das Daseyn Gottes und die Unsterblichkeit der Seele (obzwar beide Gegenstände ganz ausser den Grän-
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Methodenlehre IV. Hauptſt.
nichts als Schein, nur der Verſtand erkent das Wahre. Darum ſtritten aber die erſteren den Verſtandesbegriffen doch eben nicht Realitaͤt ab, ſie war aber bey ihnen nur logiſch, bey denen andern aber myſtiſch. Jene raͤume- ten intellectuelle Begriffe ein, aber nahmen blos ſenſibele Gegenſtaͤnde an. Dieſe verlangten, daß die wahren Ge- genſtaͤnde blos intelligibel waͤren und behaupteten eine An- ſchauung durch den, von keinen Sinnen begleiteten und ihrer Meinung nach nur verwirreten reinen Verſtand.
2. In Anſehung des Urſprungs reiner Vernunft- erkentniſſe, ob ſie aus der Erfahrung abgeleitet, oder, unabhaͤngig von ihr, in der Vernunft ihre Quelle haben. Ariſtoteles kan als das Haupt der Empiriſten, Plato aber der Noologiſten angeſehen werden. Locke der in neueren Zeiten dem erſteren und Leibnitz, der dem lezteren (obzwar in einer gnugſamen Entfernung von deſſen myſtiſchem Sy- ſteme) folgete, haben es gleichwol in dieſem Streite noch zu keiner Entſcheidung bringen koͤnnen. Wenigſtens ver- fuhr Epikur ſeiner Seits viel conſequenter nach ſeinem Senſualſyſtem (denn er ging mit ſeinen Schluͤſſen niemals uͤber die Graͤnze der Erfahrung hinaus), als Ariſtoteles und Locke, (vornehmlich aber der leztere,) der, nach dem er alle Begriffe und Grundſaͤtze von der Erfahrung abgeleitet hat- te, ſo weit im Gebrauche derſelben geht, daß er behaup- tet: man koͤnne das Daſeyn Gottes und die Unſterblichkeit der Seele (obzwar beide Gegenſtaͤnde ganz auſſer den Graͤn-
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Methodenlehre IV. Hauptſt.
nichts als Schein, nur der Verſtand erkent das Wahre.
Darum ſtritten aber die erſteren den Verſtandesbegriffen
doch eben nicht Realitaͤt ab, ſie war aber bey ihnen nur
logiſch, bey denen andern aber myſtiſch. Jene raͤume-
ten intellectuelle Begriffe ein, aber nahmen blos ſenſibele
Gegenſtaͤnde an. Dieſe verlangten, daß die wahren Ge-
genſtaͤnde blos intelligibel waͤren und behaupteten eine An-
ſchauung durch den, von keinen Sinnen begleiteten und
ihrer Meinung nach nur verwirreten reinen Verſtand.
2. In Anſehung des Urſprungs reiner Vernunft-
erkentniſſe, ob ſie aus der Erfahrung abgeleitet, oder,
unabhaͤngig von ihr, in der Vernunft ihre Quelle haben.
Ariſtoteles kan als das Haupt der Empiriſten, Plato aber
der Noologiſten angeſehen werden. Locke der in neueren
Zeiten dem erſteren und Leibnitz, der dem lezteren (obzwar
in einer gnugſamen Entfernung von deſſen myſtiſchem Sy-
ſteme) folgete, haben es gleichwol in dieſem Streite noch
zu keiner Entſcheidung bringen koͤnnen. Wenigſtens ver-
fuhr Epikur ſeiner Seits viel conſequenter nach ſeinem
Senſualſyſtem (denn er ging mit ſeinen Schluͤſſen niemals
uͤber die Graͤnze der Erfahrung hinaus), als Ariſtoteles und
Locke, (vornehmlich aber der leztere,) der, nach dem er alle
Begriffe und Grundſaͤtze von der Erfahrung abgeleitet hat-
te, ſo weit im Gebrauche derſelben geht, daß er behaup-
tet: man koͤnne das Daſeyn Gottes und die Unſterblichkeit
der Seele (obzwar beide Gegenſtaͤnde ganz auſſer den Graͤn-
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 854. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/884>, abgerufen am 26.11.2024.
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