Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
kung in der Erscheinung, sich jene offenbaren. Die Nor-
malidee muß ihre Elemente zur Gestalt eines Thiers von
besonderer Gattung aus der Erfahrung nehmen; aber
die größte Zweckmäßigkeit in der Construction der Ge-
stalt, die zum allgemeinen Richtmaas der ästhetischen
Beurtheilung jedes Einzelnen dieser Species tauglich
wäre, das Bild, was gleichsam absichtlich der Technik
der Natur zum Grunde gelegen hat, dem nur die Gat-
tung im Ganzen, aber kein Einzelnes abgesondert ad-
äquat ist, liegt doch blos in der Jdee des Beurtheilen-
den, welche aber, mit ihren Proportionen, als ästheti-
sche Jdee, in einem Musterbilde völlig in concreto dar-
gestellt werden kann. Um, wie dieses zugehe, einiger-
maßen begreiflich zu machen, (denn wer kann der Natur
ihr Geheimnis gänzlich ablocken?) wollen wir eine psy-
chologische Erklärung versuchen.

Es ist anzumerken: daß, auf eine uns gänzlich un-
begreifliche Art, die Einbildungskraft nicht allein die
Zeichen für Begriffe gelegentlich, selbst von langer Zeit
her, zurückzurufen, sondern auch das Bild und die Ge-
stalt des Gegenstandes von einer unaussprechlichen Zahl
von Gegenständen verschiedener Arten, oder auch ein
und derselben Art, reproduciren können, ja auch, wenn
das Gemüth es auf Vergleichungen anlegt, allem Ver-
muthen nach wirklich, wenn gleich nicht hinreichend zum
Bewußtseyn, reproduciren, ein Bild gleichsam auf das
andere fallen lassen, und, durch die Congruenz der meh-

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
kung in der Erſcheinung, ſich jene offenbaren. Die Nor-
malidee muß ihre Elemente zur Geſtalt eines Thiers von
beſonderer Gattung aus der Erfahrung nehmen; aber
die groͤßte Zweckmaͤßigkeit in der Conſtruction der Ge-
ſtalt, die zum allgemeinen Richtmaas der aͤſthetiſchen
Beurtheilung jedes Einzelnen dieſer Species tauglich
waͤre, das Bild, was gleichſam abſichtlich der Technik
der Natur zum Grunde gelegen hat, dem nur die Gat-
tung im Ganzen, aber kein Einzelnes abgeſondert ad-
aͤquat iſt, liegt doch blos in der Jdee des Beurtheilen-
den, welche aber, mit ihren Proportionen, als aͤſtheti-
ſche Jdee, in einem Muſterbilde voͤllig in concreto dar-
geſtellt werden kann. Um, wie dieſes zugehe, einiger-
maßen begreiflich zu machen, (denn wer kann der Natur
ihr Geheimnis gaͤnzlich ablocken?) wollen wir eine pſy-
chologiſche Erklaͤrung verſuchen.

Es iſt anzumerken: daß, auf eine uns gaͤnzlich un-
begreifliche Art, die Einbildungskraft nicht allein die
Zeichen fuͤr Begriffe gelegentlich, ſelbſt von langer Zeit
her, zuruͤckzurufen, ſondern auch das Bild und die Ge-
ſtalt des Gegenſtandes von einer unausſprechlichen Zahl
von Gegenſtaͤnden verſchiedener Arten, oder auch ein
und derſelben Art, reproduciren koͤnnen, ja auch, wenn
das Gemuͤth es auf Vergleichungen anlegt, allem Ver-
muthen nach wirklich, wenn gleich nicht hinreichend zum
Bewußtſeyn, reproduciren, ein Bild gleichſam auf das
andere fallen laſſen, und, durch die Congruenz der meh-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0120" n="56"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Th. Critik der a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;chen Urtheilskraft.</fw><lb/>
kung in der Er&#x017F;cheinung, &#x017F;ich jene offenbaren. Die Nor-<lb/>
malidee muß ihre Elemente zur Ge&#x017F;talt eines Thiers von<lb/>
be&#x017F;onderer Gattung aus der Erfahrung nehmen; aber<lb/>
die gro&#x0364;ßte Zweckma&#x0364;ßigkeit in der Con&#x017F;truction der Ge-<lb/>
&#x017F;talt, die zum allgemeinen Richtmaas der a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;chen<lb/>
Beurtheilung jedes Einzelnen die&#x017F;er Species tauglich<lb/>
wa&#x0364;re, das Bild, was gleich&#x017F;am ab&#x017F;ichtlich der Technik<lb/>
der Natur zum Grunde gelegen hat, dem nur die Gat-<lb/>
tung im Ganzen, aber kein Einzelnes abge&#x017F;ondert ad-<lb/>
a&#x0364;quat i&#x017F;t, liegt doch blos in der Jdee des Beurtheilen-<lb/>
den, welche aber, mit ihren Proportionen, als a&#x0364;&#x017F;theti-<lb/>
&#x017F;che Jdee, in einem Mu&#x017F;terbilde vo&#x0364;llig <hi rendition="#aq">in concreto</hi> dar-<lb/>
ge&#x017F;tellt werden kann. Um, wie die&#x017F;es zugehe, einiger-<lb/>
maßen begreiflich zu machen, (denn wer kann der Natur<lb/>
ihr Geheimnis ga&#x0364;nzlich ablocken?) wollen wir eine p&#x017F;y-<lb/>
chologi&#x017F;che Erkla&#x0364;rung ver&#x017F;uchen.</p><lb/>
                <p>Es i&#x017F;t anzumerken: daß, auf eine uns ga&#x0364;nzlich un-<lb/>
begreifliche Art, die Einbildungskraft nicht allein die<lb/>
Zeichen fu&#x0364;r Begriffe gelegentlich, &#x017F;elb&#x017F;t von langer Zeit<lb/>
her, zuru&#x0364;ckzurufen, &#x017F;ondern auch das Bild und die Ge-<lb/>
&#x017F;talt des Gegen&#x017F;tandes von einer unaus&#x017F;prechlichen Zahl<lb/>
von Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden ver&#x017F;chiedener Arten, oder auch ein<lb/>
und der&#x017F;elben Art, reproduciren ko&#x0364;nnen, ja auch, wenn<lb/>
das Gemu&#x0364;th es auf Vergleichungen anlegt, allem Ver-<lb/>
muthen nach wirklich, wenn gleich nicht hinreichend zum<lb/>
Bewußt&#x017F;eyn, reproduciren, ein Bild gleich&#x017F;am auf das<lb/>
andere fallen la&#x017F;&#x017F;en, und, durch die Congruenz der meh-<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[56/0120] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. kung in der Erſcheinung, ſich jene offenbaren. Die Nor- malidee muß ihre Elemente zur Geſtalt eines Thiers von beſonderer Gattung aus der Erfahrung nehmen; aber die groͤßte Zweckmaͤßigkeit in der Conſtruction der Ge- ſtalt, die zum allgemeinen Richtmaas der aͤſthetiſchen Beurtheilung jedes Einzelnen dieſer Species tauglich waͤre, das Bild, was gleichſam abſichtlich der Technik der Natur zum Grunde gelegen hat, dem nur die Gat- tung im Ganzen, aber kein Einzelnes abgeſondert ad- aͤquat iſt, liegt doch blos in der Jdee des Beurtheilen- den, welche aber, mit ihren Proportionen, als aͤſtheti- ſche Jdee, in einem Muſterbilde voͤllig in concreto dar- geſtellt werden kann. Um, wie dieſes zugehe, einiger- maßen begreiflich zu machen, (denn wer kann der Natur ihr Geheimnis gaͤnzlich ablocken?) wollen wir eine pſy- chologiſche Erklaͤrung verſuchen. Es iſt anzumerken: daß, auf eine uns gaͤnzlich un- begreifliche Art, die Einbildungskraft nicht allein die Zeichen fuͤr Begriffe gelegentlich, ſelbſt von langer Zeit her, zuruͤckzurufen, ſondern auch das Bild und die Ge- ſtalt des Gegenſtandes von einer unausſprechlichen Zahl von Gegenſtaͤnden verſchiedener Arten, oder auch ein und derſelben Art, reproduciren koͤnnen, ja auch, wenn das Gemuͤth es auf Vergleichungen anlegt, allem Ver- muthen nach wirklich, wenn gleich nicht hinreichend zum Bewußtſeyn, reproduciren, ein Bild gleichſam auf das andere fallen laſſen, und, durch die Congruenz der meh-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/120
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/120>, abgerufen am 04.12.2024.