ihn nämlich so beurtheilen, daß wir uns blos den Fall denken, da wir ihm etwa Widerstand thun wollten und daß alsdenn aller Widerstand bey weitem vergeblich seyn würde. So fürchtet der Tugendhafte Gott, ohne sich vor ihm zu fürchten, weil er ihm und seinen Geboten widerstehen zu wollen, sich als keinen von ihm besorgli- chen Fall denkt. Aber auf jeden solchen Fall, den er als an sich nicht unmöglich denkt, erkennt er ihn als furchtbar.
Der sich fürchtet kann über das Erhabene der Natur gar nicht urtheilen, so wenig als der, welcher durch Nei- gung und Appetit angenommen ist, über das Schöne. Er fliehet den Anblick eines Gegenstandes, der ihm die- sen Scheu einjagt und es ist unmöglich an einem Schre- cken, der ernstlich gemeynt wäre, Wohlgefallen zu fin- den. Daher ist die Annehmlichkeit aus dem Aufhören einer Beschwerde das Frohseyn. Dieses aber, wegen der Befreyung von einer Gefahr, ist ein Frohseyn mit dem Vorsatze sich derselben nie mehr auszusetzen, ja man mag an jene Empfindung nicht einmal gerne zurückdenken, weit gefehlt, daß man die Gelegenheit dazu selbst auf- suchen sollte.
Kühne überhangende gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich aufthürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zer- störenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ocean in Empörung ge-
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
ihn naͤmlich ſo beurtheilen, daß wir uns blos den Fall denken, da wir ihm etwa Widerſtand thun wollten und daß alsdenn aller Widerſtand bey weitem vergeblich ſeyn wuͤrde. So fuͤrchtet der Tugendhafte Gott, ohne ſich vor ihm zu fuͤrchten, weil er ihm und ſeinen Geboten widerſtehen zu wollen, ſich als keinen von ihm beſorgli- chen Fall denkt. Aber auf jeden ſolchen Fall, den er als an ſich nicht unmoͤglich denkt, erkennt er ihn als furchtbar.
Der ſich fuͤrchtet kann uͤber das Erhabene der Natur gar nicht urtheilen, ſo wenig als der, welcher durch Nei- gung und Appetit angenommen iſt, uͤber das Schoͤne. Er fliehet den Anblick eines Gegenſtandes, der ihm die- ſen Scheu einjagt und es iſt unmoͤglich an einem Schre- cken, der ernſtlich gemeynt waͤre, Wohlgefallen zu fin- den. Daher iſt die Annehmlichkeit aus dem Aufhoͤren einer Beſchwerde das Frohſeyn. Dieſes aber, wegen der Befreyung von einer Gefahr, iſt ein Frohſeyn mit dem Vorſatze ſich derſelben nie mehr auszuſetzen, ja man mag an jene Empfindung nicht einmal gerne zuruͤckdenken, weit gefehlt, daß man die Gelegenheit dazu ſelbſt auf- ſuchen ſollte.
Kuͤhne uͤberhangende gleichſam drohende Felſen, am Himmel ſich aufthuͤrmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zer- ſtoͤrenden Gewalt, Orkane mit ihrer zuruͤckgelaſſenen Verwuͤſtung, der grenzenloſe Ocean in Empoͤrung ge-
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
ihn naͤmlich ſo beurtheilen, daß wir uns blos den Fall
denken, da wir ihm etwa Widerſtand thun wollten
und daß alsdenn aller Widerſtand bey weitem vergeblich
ſeyn wuͤrde. So fuͤrchtet der Tugendhafte Gott, ohne
ſich vor ihm zu fuͤrchten, weil er ihm und ſeinen Geboten
widerſtehen zu wollen, ſich als keinen von ihm beſorgli-
chen Fall denkt. Aber auf jeden ſolchen Fall, den er
als an ſich nicht unmoͤglich denkt, erkennt er ihn als
furchtbar.
Der ſich fuͤrchtet kann uͤber das Erhabene der Natur
gar nicht urtheilen, ſo wenig als der, welcher durch Nei-
gung und Appetit angenommen iſt, uͤber das Schoͤne.
Er fliehet den Anblick eines Gegenſtandes, der ihm die-
ſen Scheu einjagt und es iſt unmoͤglich an einem Schre-
cken, der ernſtlich gemeynt waͤre, Wohlgefallen zu fin-
den. Daher iſt die Annehmlichkeit aus dem Aufhoͤren einer
Beſchwerde das Frohſeyn. Dieſes aber, wegen der
Befreyung von einer Gefahr, iſt ein Frohſeyn mit dem
Vorſatze ſich derſelben nie mehr auszuſetzen, ja man mag
an jene Empfindung nicht einmal gerne zuruͤckdenken,
weit gefehlt, daß man die Gelegenheit dazu ſelbſt auf-
ſuchen ſollte.
Kuͤhne uͤberhangende gleichſam drohende Felſen, am
Himmel ſich aufthuͤrmende Donnerwolken, mit Blitzen
und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zer-
ſtoͤrenden Gewalt, Orkane mit ihrer zuruͤckgelaſſenen
Verwuͤſtung, der grenzenloſe Ocean in Empoͤrung ge-
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/166>, abgerufen am 11.12.2024.
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