setzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u. d. gl. machen unser Vermögen zu widerstehen, in Vergleichung mit ihrer Macht, zur unbedeutenden Kleinigkeit. Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtba- rer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaas erhöhen und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Muth macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können.
Denn, so wie wir zwar an der Unermeslichkeit der Natur und der Unzulänglichkeit unseres Vermögens ei- nen der ästhetischen Größenschätzung ihres Gebiets proportionirten Maasstab zu nehmen unsere eigene Ein- schränkung, gleichwohl aber doch auch an unserm Ver- nunftvermögen zugleich einen andern nicht-sinnlichen Maasstab, welcher jene Unendlichkeit selbst als Einheit unter sich hat, gegen den alles in der Natur klein ist, mithin in unserm Gemüthe eine Ueberlegenheit über die Natur selbst in ihrer Unermeslichkeit fanden: so giebt auch die Unwiderstehlichkeit ihrer Macht uns, als Na- turwesen betrachtet, zwar unsere Ohnmacht zu erkennen, aber entdeckt zugleich ein Vermögen, uns als von ihr unabhängig zu beurtheilen und eine Ueberlegenheit über die Natur, worauf sich eine Selbsterhaltung von ganz andrer Art gründet, als diejenige ist die von der Natur
G 4
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
ſetzt, ein hoher Waſſerfall eines maͤchtigen Fluſſes u. d. gl. machen unſer Vermoͤgen zu widerſtehen, in Vergleichung mit ihrer Macht, zur unbedeutenden Kleinigkeit. Aber ihr Anblick wird nur um deſto anziehender, je furchtba- rer er iſt, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden und wir nennen dieſe Gegenſtaͤnde gern erhaben, weil ſie die Seelenſtaͤrke uͤber ihr gewoͤhnliches Mittelmaas erhoͤhen und ein Vermoͤgen zu widerſtehen von ganz anderer Art in uns entdecken laſſen, welches uns Muth macht, uns mit der ſcheinbaren Allgewalt der Natur meſſen zu koͤnnen.
Denn, ſo wie wir zwar an der Unermeslichkeit der Natur und der Unzulaͤnglichkeit unſeres Vermoͤgens ei- nen der aͤſthetiſchen Groͤßenſchaͤtzung ihres Gebiets proportionirten Maasſtab zu nehmen unſere eigene Ein- ſchraͤnkung, gleichwohl aber doch auch an unſerm Ver- nunftvermoͤgen zugleich einen andern nicht-ſinnlichen Maasſtab, welcher jene Unendlichkeit ſelbſt als Einheit unter ſich hat, gegen den alles in der Natur klein iſt, mithin in unſerm Gemuͤthe eine Ueberlegenheit uͤber die Natur ſelbſt in ihrer Unermeslichkeit fanden: ſo giebt auch die Unwiderſtehlichkeit ihrer Macht uns, als Na- turweſen betrachtet, zwar unſere Ohnmacht zu erkennen, aber entdeckt zugleich ein Vermoͤgen, uns als von ihr unabhaͤngig zu beurtheilen und eine Ueberlegenheit uͤber die Natur, worauf ſich eine Selbſterhaltung von ganz andrer Art gruͤndet, als diejenige iſt die von der Natur
G 4
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0167"n="103"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">I.</hi> Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.</fw><lb/>ſetzt, ein hoher Waſſerfall eines maͤchtigen Fluſſes u. d. gl.<lb/>
machen unſer Vermoͤgen zu widerſtehen, in Vergleichung<lb/>
mit ihrer Macht, zur unbedeutenden Kleinigkeit. Aber<lb/>
ihr Anblick wird nur um deſto anziehender, je furchtba-<lb/>
rer er iſt, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden und<lb/>
wir nennen dieſe Gegenſtaͤnde gern erhaben, weil ſie die<lb/>
Seelenſtaͤrke uͤber ihr gewoͤhnliches Mittelmaas erhoͤhen<lb/>
und ein Vermoͤgen zu widerſtehen von ganz anderer Art<lb/>
in uns entdecken laſſen, welches uns Muth macht, uns<lb/>
mit der ſcheinbaren Allgewalt der Natur meſſen zu<lb/>
koͤnnen.</p><lb/><p>Denn, ſo wie wir zwar an der Unermeslichkeit der<lb/>
Natur und der Unzulaͤnglichkeit unſeres Vermoͤgens ei-<lb/>
nen der aͤſthetiſchen Groͤßenſchaͤtzung ihres <hirendition="#fr">Gebiets</hi><lb/>
proportionirten Maasſtab zu nehmen unſere eigene Ein-<lb/>ſchraͤnkung, gleichwohl aber doch auch an unſerm Ver-<lb/>
nunftvermoͤgen zugleich einen andern nicht-ſinnlichen<lb/>
Maasſtab, welcher jene Unendlichkeit ſelbſt als Einheit<lb/>
unter ſich hat, gegen den alles in der Natur klein iſt,<lb/>
mithin in unſerm Gemuͤthe eine Ueberlegenheit uͤber die<lb/>
Natur ſelbſt in ihrer Unermeslichkeit fanden: ſo giebt<lb/>
auch die Unwiderſtehlichkeit ihrer Macht uns, als Na-<lb/>
turweſen betrachtet, zwar unſere Ohnmacht zu erkennen,<lb/>
aber entdeckt zugleich ein Vermoͤgen, uns als von ihr<lb/>
unabhaͤngig zu beurtheilen und eine Ueberlegenheit uͤber<lb/>
die Natur, worauf ſich eine Selbſterhaltung von ganz<lb/>
andrer Art gruͤndet, als diejenige iſt die von der Natur<lb/><fwplace="bottom"type="sig">G 4</fw><lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[103/0167]
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
ſetzt, ein hoher Waſſerfall eines maͤchtigen Fluſſes u. d. gl.
machen unſer Vermoͤgen zu widerſtehen, in Vergleichung
mit ihrer Macht, zur unbedeutenden Kleinigkeit. Aber
ihr Anblick wird nur um deſto anziehender, je furchtba-
rer er iſt, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden und
wir nennen dieſe Gegenſtaͤnde gern erhaben, weil ſie die
Seelenſtaͤrke uͤber ihr gewoͤhnliches Mittelmaas erhoͤhen
und ein Vermoͤgen zu widerſtehen von ganz anderer Art
in uns entdecken laſſen, welches uns Muth macht, uns
mit der ſcheinbaren Allgewalt der Natur meſſen zu
koͤnnen.
Denn, ſo wie wir zwar an der Unermeslichkeit der
Natur und der Unzulaͤnglichkeit unſeres Vermoͤgens ei-
nen der aͤſthetiſchen Groͤßenſchaͤtzung ihres Gebiets
proportionirten Maasſtab zu nehmen unſere eigene Ein-
ſchraͤnkung, gleichwohl aber doch auch an unſerm Ver-
nunftvermoͤgen zugleich einen andern nicht-ſinnlichen
Maasſtab, welcher jene Unendlichkeit ſelbſt als Einheit
unter ſich hat, gegen den alles in der Natur klein iſt,
mithin in unſerm Gemuͤthe eine Ueberlegenheit uͤber die
Natur ſelbſt in ihrer Unermeslichkeit fanden: ſo giebt
auch die Unwiderſtehlichkeit ihrer Macht uns, als Na-
turweſen betrachtet, zwar unſere Ohnmacht zu erkennen,
aber entdeckt zugleich ein Vermoͤgen, uns als von ihr
unabhaͤngig zu beurtheilen und eine Ueberlegenheit uͤber
die Natur, worauf ſich eine Selbſterhaltung von ganz
andrer Art gruͤndet, als diejenige iſt die von der Natur
G 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/167>, abgerufen am 11.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.